Empirische Wenden und die Abgeschlossenheit des Rechtssystems Online-Symposium »Empirische Wende«

Vor zehn Jahren veröffentlichte Niels Petersen einen Beitrag zur Frage, ob die Rechtswissenschaft eine »empirische Wende« brauche. Der Text provozierte vielfältige Reaktionen, darunter eine scharf formulierte Replik von Ino Augsberg gegen den »neuerdings erhobenen empiristischen Ton in der Rechtswissenschaft«. Zehn Jahre später greift ein R|E Online-Symposium die Debatte noch einmal auf: Sind wir heute klüger? Haben die Zeitläufte einer Seite Recht gegeben? Oder war es am Ende ein Streit, der sich an Begrifflichkeiten entzündete, gar ein Missverständnis? Die Initiatoren der Debatte und weitere Autoren beziehen zu diesen Fragen Stellung. (Red.)

 

Der Wirklichkeitsnachbau des Rechts ist defizitär.

Rainald Goetz

Die Wiederaufnahme der Debatte um die „empirische Wende“ der Rechtswissenschaft im Rahmen dieser Blogreihe versammelt mittlerweile mindestens zwei empirische Wenden des Faches, die teilweise miteinander vermischt werden, die sich aber hinsichtlich ihrer Erkenntnisinteressen und Beobachtungsebenen unterscheiden. Die Debatte nimmt ihren Ausgang bei der Frage nach den Möglichkeiten des Umgangs von Rechtswissenschaft und vor allem Rechtspraxis mit extrajuridischem Wissen. Diese erste empirische Wende bezieht sich also auf den Transfer dieses Wissens in das Rechtssystem und darauf, wie dieses System mit diesem Wissen umgehen muss und kann. Davon zu unterscheiden ist die empirische Untersuchung der Rechtspraxis durch die Sozial- und mittlerweile auch die Rechtswissenschaften. Bei dieser zweiten empirischen Wende geht es um die konkrete Anwendung empirischer, neuerdings insbesondere quantitativer Methoden durch die Rechtswissenschaften zur Erforschung ihres eigenen Gegenstandes. Der Begriff „rechtsempirisch“ in den Titeln dieser Studien meint meist diese zweite empirische Wende.

Doppelte interdisziplinäre Öffnung der Rechtswissenschaft

Niels Petersen selbst deutet diese Unterscheidung an, wenn er am Ende seines Beitrags feststellt, dass die empirische Wende bisher weniger in der Rechtspraxis angekommen ist (im Sinne einer Weiterentwicklung von Dogmatik durch extrajuridisches Wissen) sondern vielmehr in der Rechtswissenschaft im Sinne einer Beobachtung des Rechts. Auch Felix R. Walters Unterscheidung zwischen Jurisprudenz und Rechtswissenschaft entspricht dieser Differenzierung. Beide Wenden berühren sich an zahlreichen Punkten und teilen die Grundlage, dass eine rein dogmatische Rechtswissenschaft nicht mehr ausreicht, weder bei der Anwendung empirischen Wissens zur Lösung konkreter Fälle bzw. abstrakten Rechtsproblemen noch bei der reflexiven Beobachtung des Gegenstandes Recht. Im ersten Fall sind die Sozialwissenschaften als Wissensressource Gegenstand des Rechts, in letzterem Fall ist das Recht Gegenstand einer im weitesten Sinne sozialwissenschaftlichen Beobachtung (die mittlerweile auch von der Rechtswissenschaft selbst praktiziert wird). Die Rechtswissenschaft erlebt damit eine doppelte interdisziplinäre Öffnung, da sie sich sowohl auf Ebene konkreter Rechtsdiskurse als auch auf Ebene der Beobachtung ihrer Praxis empirischen Methoden und Wissensressourcen öffnen muss.

Während Niels Petersen und Ino Augsberg damals und heute das Erkenntnisinteresse der ersten empirische Wende diskutieren, werden in den anderen Beiträgen die Ebenen teils vermischt. So leitet Konstantin Chatziathanasiou seinen Text etwa mit Beispielen ein, die die zweite empirische Wende betreffen. Auch Alexander Tischbirek wechselt plötzlich die Ebenen, wenn er zuerst anmerkt, dass Petersen sich in seiner Ausgangsfrage in erster Linie für die gerichtliche Perspektive auf Empirie interessiert, dann aber die These, dass die Rechtswissenschaft viel eher als die Rechtspraxis empirische Methoden anwendet, mit Beispielen der zweiten empirischen Wende begründet. „Die gezielte Anreicherung der hergebrachten juristischen Hermeneutik um quantitative Methoden“ ist in der Tat eine methodische Erweiterung der Rechtswissenschaften, sie ist aber etwas anderes als das Interesse des Faches für die Verwendung extrajuridischen Wissens.

Radikaler Konstruktivismus vs. pragmatischer Realismus

Der Dissens zwischen Petersen und Augsberg beruht auf unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Annahmen hinsichtlich der Geschlossenheit des Rechtssystems bzw. den Möglichkeiten seiner Öffnung für extrajuridisches Wissen. Während sich beide darin einig sind, dass jedes empirische Wissen selbst mit Unsicherheit behaftet ist und vor allem eigene normativen Prämissen hinter einer scheinbaren Objektivität versteckt, variieren die Meinungen zu den Möglichkeit, dieses Wissen in das Rechtssystem zu übersetzen (Petersen) oder vielmehr zu transformieren (Augsberg). Petersen nimmt die Position eines erkenntnistheoretischen Realismus ein, wenn er argumentiert, dass die Tatsachen, die im Recht entscheidungserheblich sind, tatsächlich einer empirischen Wirklichkeit entsprechen und nicht bloße Konstrukte des Rechtssystems sind, in dem sie Anwendung finden. Diese Vorstellung korrespondiert mit der klassischen juristischen Methodenlehre, nach der ein Sachverhalt, der im Subsumtionsprozess auf seine Übereinstimmung mit dem Tatbestand der Norm geprüft wird, einer Realität entspricht und nicht nur, zum Ziel dieser Übereinstimmung, konstruiert wurde.

Die Einwände von Augsberg sind epistemischer Natur und verweisen vor allem auf den Konstruktionscharakter jedes Sachverhalts, sobald er als Rechtsfall verstanden wird. Das Radikale an diesem Konstruktivismus besteht darin, dass laut Augsberg die durch das Recht erzeugte Wirklichkeit nicht danach beurteilt werden darf, wie viel sie noch zu tun hat mit der wirklichen Wirklichkeit. Für Augsberg ist das Recht Theater: Ebenso, wie dort echte Menschen Rollen spielen (und es für dieses Spiel nicht erheblich ist und nicht erheblich sein darf, wer diese Menschen in Wirklichkeit sind), werden Tatsachen durch ihre Transformation ins Rechtssystem Teil eines Schauspiels, das einer eigenen Logik und eigenen Regeln folgt. Augsberg begründet die Analogie damit, dass Wirklichkeit stets Konstrukt ist, wenn sie das Soziale betrifft bzw. im Sozialen dargestellt wird. Das Recht ist dann nur ein Medium dieser Darstellung neben anderen. Es rekonstruiert die ohnehin schon konstruierten Tatsachen.

Das gilt umso mehr dort, wo das Recht es nicht mehr nur mit in erster Linie statistischen Daten zu tun bekommt, sondern mit den Ergebnissen interpretativer Sozialforschung. Im angelsächsischen Raum gibt es etwa bereits eine rege Debatte um die Rolle von „cultural expertise“ vor Gerichten. Ein weiteres Beispiel ist der Einsatz von Sachverständigen oder Herkunftslandinformationen in asylgerichtlichen Verfahren. Eine Rechtswissenschaft, die sich für die Verwendung von extrajuridischem Wissen im Recht interessiert, sollte die gesamte Spannbreite dieses Wissens in den Blick bekommen. In diesem Zusammenhang gilt es auch zu untersuchen, wie das Rechtssystem tatsachenbezogene Unsicherheiten behandelt, die nicht nur von der Komplexität oder der normativen Grundierung der empirischen Tatsachen herrühren, sondern etwa davon, dass der zu bewertende Sachverhalt in der Zukunft liegt. Das gilt beispielsweise für die Prognoseentscheidung im Asylverfahren, die durch den Maßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ einer individuellen Verfolgung oder eines ernsthaften Schadens nach einer Rückkehr ins Herkunftsland dogmatisch ermöglicht wird.

Beobachtung des geschlossenen Rechtssystems

Der von Augsberg in den Mittelpunkt gerückte Konstruktionscharakter des Rechts bzw. der Tatsachen durch das Recht muss im Kontext beider empirischer Wenden des Rechtssystems reflektiert werden, also sowohl bei der Verwendung extrajuridischen Wissens durch das Recht als auch bei der Beobachtung von Rechtspraxis durch Rechts- und Sozialwissenschaften. Insbesondere die Möglichkeiten anderer Wissenschaften einer Beobachtung des Rechtssystems scheint Augsberg in seiner Argumentation allerdings zu beschneiden. Aus seinem radikalen Konstruktivismus folgert er, dass eine Beobachtung bzw. Beschreibung der rechtlichen Konstruktion der Wirklichkeit nur aus dem Rechtssystem selbst erfolgen kann: „Eine angemessene Wahrnehmung des Schauspiels als solchem wird durch den externen Standpunkt versperrt; sie setzt voraus, dass man sich auf dessen Eigenlogik einlässt.“ Der radikale Konstruktivismus wird ergänzt durch radikale Selbstreferentialität: Nur aus der Innenperspektive kann beobachtet werden, was das Recht sieht. Damit wird deutlich, warum Augsberg so scharf („epistemologische Naivität“, „verkürztes Problembewusstsein“, „vorkantianisches Niveau“) gegen die von Petersen 2010 geforderte empirische Wende angeschrieben hat: Denn im Gegensatz zu diesem radikal selbstreferentiellen Verständnis des eigenen Faches zielt Petersens pragmatische Position auf eine tatsächliche Öffnung des Rechtssystems, was nur funktioniert, wenn dessen Konstruktionsleistung nicht als exklusives Unterfangen verstanden wird, sondern sich wiederum der Fremdbeschreibung aussetzt. Wenn Petersen auch bei der Neuauflage der Debatte feststellt, „dass das Recht keineswegs ein autonomes, gegenüber Erkenntnissen aus anderen Wissenschaften vollkommen abgeschlossenes System ist“, dann gilt das nicht nur für die Notwendigkeit empirischen Wissens für die Lösung von Rechtsfragen, sondern auch für die Möglichkeiten einer Fremdbeobachtung des Rechtssystems.

Dass der Wirklichkeitsnachbau des Rechts defizitär ist, muss Ausgangspunkt jeder wissenschaftlichen Untersuchung dieses Gegenstandes sein, ob nun aus rechts- oder sozialwissenschaftlicher Perspektive. Die Akzeptanz des Konstruktionscharakters des Rechts darf aber nicht dazu führen, dass sich das Recht nur noch selbst beobachtet, sondern bedeutet gerade umgekehrt, dass die Konstruktion von Tatsachen durch das Recht von außen untersucht wird, um beispielsweise ein besseres Verständnis dafür zu gewinnen, wann und vor allem wie bestimmte Tatsachen strategisch so eingesetzt werden, dass sie ein rechtliches Argument bedienen. Dafür keine dogmatische Perspektive einzunehmen, scheint eher ein Vorteil zu sein als ein Nachteil.

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Zitiervorschlag
Feneberg, Empirische Wenden und die Abgeschlossenheit des Rechtssystems, RECHTS|EMPIRIE, 10.04.2021, DOI: 10.25527/re.2021.05