Interdisziplinäre Rechtswissenschaft: Zwischen Ausdifferenzierung und Integration Online-Symposium »Empirische Wende«

Vor zehn Jahren veröffentlichte Niels Petersen einen Beitrag zur Frage, ob die Rechtswissenschaft eine »empirische Wende« brauche. Der Text provozierte vielfältige Reaktionen, darunter eine scharf formulierte Replik von Ino Augsberg gegen den »neuerdings erhobenen empiristischen Ton in der Rechtswissenschaft«. Zehn Jahre später greift ein R|E Online-Symposium die Debatte noch einmal auf: Sind wir heute klüger? Haben die Zeitläufte einer Seite Recht gegeben? Oder war es am Ende ein Streit, der sich an Begrifflichkeiten entzündete, gar ein Missverständnis? Die Initiatoren der Debatte und weitere Autoren beziehen zu diesen Fragen Stellung. (Red.)

Ich danke den Herausgebern für die Einladung, mich in die Debatte um die „empirische Wende“ einzubringen. Die Debatte ist aus vielen Gründen wichtig. Der Einsatz von Methoden der empirischen Sozialforschung im Recht ist ein anspruchsvolles Unterfangen. Experimentelle Rechtsökonomik, quantitative Verfassungsvergleichung, empirische Richterforschung und weitere empirische Ansätze haben erhebliche Potentiale, bergen aber auch Fallstricke. Hier möchte ich die Debatte aber gerne aus einer anderen Perspektive kommentieren: Was verrät sie uns über die Eigenarten des rechtswissenschaftlichen Diskurses?

Meines Erachtens macht sie Ausdifferenzierung und Integration der deutschen Rechtswissenschaft sichtbar. Über die Implikationen von beidem lohnt es sich nachzudenken – sowohl mit Blick auf unsere Debatte, als auch allgemeiner.

Ausdifferenziert ist die Rechtswissenschaft auf vielfältige Weise. Regelungsgegenstände und Regelungsinstrumente nehmen an Komplexität tendenziell zu. Das macht Spezialisierung notwendig. Unser Fall zeigt aber noch eine weitere Dynamik, nämlich die Fliehkräfte interdisziplinären Arbeitens. Wer seinen Zugriff auf das Recht um Einsichten und Methoden aus Nachbardisziplinen anreichern möchte, kommt nicht umhin, sich eingehend mit diesen zu befassen. Ino Augsberg und Niels Petersen ist es mit der Interdisziplinarität besonders ernst. Beiden geht es darum, dass der gemeinsame Diskurs nicht hinter den Einsichten „ihrer“ Nachbarwissenschaft zurückfällt: Aus Sicht der empirischen Sozialforschung warnt Niels Petersen davor, bei der Rezeption empirischer Forschung hinter den Standards der Disziplin zurückzufallen; aus philosophischer Sicht geht es Ino Augsberg darum, auf Subjektivität und Relativität empirischer Wahrnehmung sowie auf die Spezifizität normativen Denkens aufmerksam zu machen. Beide Anliegen sind berechtigt.

Aus meiner Sicht noch nicht geklärt ist aber, wie sie sich zueinander verhalten. Hier würde ich gern mehr erfahren. Was ändert sich für die Praxis der empirischen Sozialforschung, wenn man Ino Augsbergs Hinweis auf die fundamentale Bedingtheit unserer Wahrnehmung als richtig unterstellt? Empirische Sozialforschung mag unter einem erkenntnistheoretischen Vorbehalt stehen. Von den Auseinandersetzungen um das richtige methodische Vorgehen innerhalb der empirischen Sozialforschung sind wir aber auch dann nicht befreit, wenn man die Unzulänglichkeiten dieses Vorgehens anerkennt. Mit anderen Worten: Wir haben zwar keinen Zugriff auf absolute Wahrheiten, aber müssen wir nicht trotzdem das Beste aus den Mitteln machen, die uns zur Verfügung stehen? (Im Übrigen existiert durchaus empirische Forschung, die sich mit Teilnehmerperspektiven auf Normen auseinandersetzt.)

An der Debatte zeigt sich aber nicht nur Ausdifferenzierung, sondern auch Integration des rechtswissenschaftlichen Diskurses. Dass sowohl Ino Augsberg als auch Niels Petersen den STAAT als Publikationsorgan für ihre Überlegungen wählen, können wir nicht als Selbstverständlichkeit ansehen. Verbindende Klammer ist sicherlich das öffentliche Recht. Dennoch sollte man die Existenz eines gemeinsamen Diskursraumes nicht geringschätzen. In anderen Sozialwissenschaften werden solche Räume zunehmend prekär. Ein Raum, in dem sich nicht nur die Spezialisten der eigenen Nische begegnen, stellt aber wiederum besondere Anforderungen an die Kommunikation. Denn welche Leserin darf man unterstellen? Von einer juristischen Grundausbildung wird man ausgehen dürfen, von einem Grundverständnis der historischen und sozialen Bedingtheit des Rechts wohl auch. Aber wie steht es um Grundkenntnisse der Inferenzstatistik, der Systemtheorie oder gar des Griechischen? Die Antwort fällt hier nicht eindeutig aus. Niemand möchte ins Lehrbuchhafte verfallen, aber ohne Bewusstsein für diese Kommunikationsbedingungen wird es auch nicht gehen – zumindest dann, wenn wir, so wie unsere Protagonisten, an den Wert dieses gemeinsamen Diskursraumes glauben.

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Zitiervorschlag
Chatziathanasiou, Interdisziplinäre Rechtswissenschaft: Zwischen Ausdifferenzierung und Integration, RECHTS|EMPIRIE, 25.11.2020, DOI: 10.25527/re.2020.09