Über Fakten und Normen in Jurisprudenz und Wissenschaft Online-Symposium »Empirische Wende«

Vor zehn Jahren veröffentlichte Niels Petersen einen Beitrag zur Frage, ob die Rechtswissenschaft eine »empirische Wende« brauche. Der Text provozierte vielfältige Reaktionen, darunter eine scharf formulierte Replik von Ino Augsberg gegen den »neuerdings erhobenen empiristischen Ton in der Rechtswissenschaft«. Zehn Jahre später greift ein R|E Online-Symposium die Debatte noch einmal auf: Sind wir heute klüger? Haben die Zeitläufte einer Seite Recht gegeben? Oder war es am Ende ein Streit, der sich an Begrifflichkeiten entzündete, gar ein Missverständnis? Die Initiatoren der Debatte und weitere Autoren beziehen zu diesen Fragen Stellung. (Red.)

Siehst du sie rein, in nackten Formen,
so werden dir aus Fakten Normen.
Heinrich Popitz (1925-2002)

I. Fakten und Normen in der Theorie

Wer unter dem Schlagwort ›Norm‹ einen Blick in ein verbreitetes Lexikon zur Soziologie wirft, erfährt dort, dass die meisten Definitionen zwei Eigenarten von Normen miteinander verquicken: Einerseits eine beobachtbare Gleichförmigkeit eines Verhaltens, andererseits eine verbindliche, sanktionsbedrohte Forderung eines Verhaltens.1 So heißt es etwa in der Literatur, dass Normen gleichermaßen dadurch gekennzeichnet seien, dass ein Verhalten zukünftig erwartet werden könne; dass es bestimmten Regelmäßigkeiten entspreche; dass es gesollt sei sowie dass es mit einem Sanktionsrisiko bei Abweichungen verbunden sei.2 Die vor allem der logischen Analyse entnommene Sein-Sollen-Dichotomie verkommt also zumindest in der soziologischen Analyse zu einer analytischen Kategorie – zu einer Kategorie also, die zwar für die Analyse hilfreich ist, jedoch in den Gegenstand hineinprojiziert werden muss, um nicht auf dessen Oberfläche zu verschwimmen.

II. Theorie-Praxis-Konfusion I

Petersen argumentierte demgegenüber vor zehn Jahren wie folgt: Während in der Theorie strikt zwischen Fakten und Normen unterschieden werde und der Fokus der Ausbildung einseitig auf den Normen liege, überschreite die juristische Praxis diese Unterscheidung regelmäßig (z. B. im Bereich der teleologischen Auslegung), woraus sich die Notwendigkeit ergebe, der anderen Seite der Unterscheidung – den Fakten – in Ausbildung und Forschung mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Diese Forderung wird prägnant unter dem Stichwort ›empirische Wende‹ diskutiert und damit begründet, dass es andernfalls zu praktischen Fehlern komme, insbesondere im Umgang mit sozialwissenschaftlichen Statistiken.3 Für Konfusion sorgt die initiale Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis, die weder im Ausgangstext noch in den jüngeren Kommentierungen konkretisiert wird. Wahrscheinlich ist mit Theorie dasjenige gemeint, was Juristen an Hochschulen tun, während Praxis dasjenige ist, was Juristen an Gerichten und bezogen auf Gerichte tun.

Diese institutionell orientierte Unterscheidung halte ich in Bezug auf die Debatte über die Relevanz von Sozialwissenschaften im Recht für unglücklich, da sie die Binnendifferenzierung der Rechtswissenschaft in einen praxisbezogenen Teil (Rechtsdogmatik?) und einen reflektierenden Teil (Rechtstheorie?) nicht hinreichend berücksichtigt. Mein Gegenvorschlag lautet, zwischen Jurisprudenz und Rechtswissenschaft insofern zu unterscheiden, als Jurisprudenz sowohl in Gerichten, Kanzleien, Behörden etc. als auch Hochschulen teilnehmend am praktischen Rechtsdiskurs stattfindet, während Rechtswissenschaft rein beobachtend weitgehend mit den Grundlagenfächern übereinstimmt. Diese Unterscheidung hat zur Folge, dass sich die Praxis erheblich ausdehnt und die Theorie stärker abstrahiert als gewohnt, was sich vor allem an der Frage zeigt, inwieweit Leitunterscheidungen des geltenden Rechts als gegeben hingenommen werden oder nicht – mit anderen Worten: inwieweit in theoretischer Hinsicht ›tabula rasa‹ herrscht. Je mehr das der Fall ist, desto weniger dürfte es rechtspraktisch relevant sein und damit Wissenschaft und nicht Jurisprudenz sein.4

III. Theorie-Praxis-Konfusion II

Mit diesen Hintergedanken bietet sich eine Gegendarstellung der Zusammenhänge an: Die Unterscheidung zwischen Fakten und Normen macht vor allem in der Theorie Probleme; die Praxis hingegen operiert damit und löst gelegentlich entstehende Probleme mithilfe ihrer ›Bordmittel‹, und zwar wie selbstverständlich unter konsequenter Missachtung der theoretischen Probleme.5 Beispiele dafür lassen sich genügend finden: Neben denjenigen von Petersen aus dem Bereich sozialwissenschaftlicher Statistik sei etwa der Rückgriff auf (empirisch oft ›falsche‹) Alltags- und Sonntagstheorien oder auf Heuristiken genannt.6 Aber nicht nur das: Schon die Frage, wann überhaupt eine Tatfrage und wann eine Rechtsfrage vorliegt, z. B. zur Feststellung der Statthaftigkeit der Revision (§§ 545 Abs. 1, 542 ZPO, §§ 333, 337 Abs. 1 StPO u. a.), wird von Juristen stets als Rechtsfrage diskutiert.7 So hängt es in der Praxis von der semantischen Geschicklichkeit von Richtern und (Staats-)Anwälten ab, ob eine bestimmte, im Prozess relevante Frage letztendlich als Rechts- oder als Tatsachenfrage verhandelt wird. Ob dieselbe Frage etwa von einem Forensiker als Faktenfrage angesehen wird, bleibt in rechtlicher Hinsicht irrelevant.

Und genau an diesen Punkt knüpft Augsberg an, wenn er daran erinnert, an wie vielen Stellen von Juristen bereits etwas womöglich ›Falsches‹ selektiert worden ist, um überhaupt zu den von Petersen benannten ›Fehlern‹ zu gelangen. Juristen sehen häufig den Wald vor lauter Bäumen nicht, weil sie aus ihrer kognitiven Gewohnheit heraus ihre eigenen Selektionen in irgendeiner Weise für ›realer‹ halten als diejenigen anderer Kommunikationszusammenhänge.8 Ob man diese Einsicht letztlich ›juridische Konstruktion‹ oder ›juristisches Theater‹ nennen möchte, bleibt aus meiner Sicht eine Geschmacksfrage.

IV. Die Wege der Praxis

Für substantiell halte ich dagegen, dass diese Überlegungen die Diskussion anders strukturieren. Unter der Annahme, dass Theorie und Praxis im oben definierten Sinn wenig relevant füreinander sind, ist unerheblich, ob die Theorie meint, dass die Praxis mehr oder sorgfältiger auf Methoden der empirischen Sozialforschung zurückgreifen sollte. Das geschieht in der Praxis entsprechend ihren eigenen Bedürfnissen, wobei sich zeigt, dass die allgemeine Bedeutungszunahme der empirischen Sozialforschung sich bereits erheblich auf die Praxis ausgewirkt hat – ein Trend, der unter den Vorzeichen der voranschreitenden Digitalisierung wohl anhalten wird. Dass jedoch Erkenntnisse einer Reflexionstheorie des Rechts – ob Diskurstheorie des Rechts, analytische Rechtslehre, Systemtheorie des Rechts o. Ä. – für die Praxis relevant geworden wären, ist mir nicht bekannt.

Aus der Bedeutungszunahme der empirischen Sozialforschung für die Praxis ergibt sich sodann auch eine Antwort auf die von Petersen aufgeworfene Frage, ob Juristen ihre Fähigkeiten im Umgang mit Methoden der empirischen Sozialforschung ausbauen sollten. Meiner Beobachtung nach tut die Praxis auch das seit Jahrzehnten, um vor dem Hintergrund der zunehmenden Durchdringung der entscheidungsrelevanten Umstände durch Methoden der empirischen Sozialforschung nicht zum Spielball der Statistiker zu werden.9 Sowohl in Vergangenheit als auch Gegenwart zeigt sich jedoch, dass es im Rahmen einer ohnehin schon herausfordernden Juristenausbildung eine ›fromme Illusion‹10 ist, Juristen dazu befähigen zu können, auf (stets aktueller) Augenhöhe mit empirischen Sozialforschern zu kommunizieren. Im demokratischen Verfassungsstaat braucht es jedenfalls hermeneutisch arbeitende Juristen, die neue juristische Texte (Gesetze, Urteile, Gutachten, etc.) in den Korpus bestehender juristischer Texte einarbeiten; und zwar möglichst widerspruchsfrei und kognitiv entlastend, um gebundene und erwartbare Entscheidungen überhaupt möglich zu machen. Alles andere hieße nichts weniger, als die Praxis zu beseitigen und der Theorie ihren Gegenstand zu nehmen.

V. Das Residuum der Theorie

Was bleibt also für die Theorie? Theorie kann, so meine Überzeugung, als empirisch adäquate Fremdbeschreibung der Praxis herausarbeiten, welche Schwierigkeiten und Probleme sich aus der zunehmenden sozialwissenschaftlichen Durchdringung der Setzung und Anwendung des Rechts ergeben. Viele Gerichte und Behörden leiden schon heute unter einer Informationsflut, bei der unklare Faktenlagen und komplexe Folgenerwägungen auf dürftige Ausstattungen treffen. Bürger und Unternehmen leiden hingegen bereits unter der ständig wachsenden Komplexität rechtlicher Normen. Wird nun zunehmend empirische Sozialforschung auch im konkreten Rechtsfall relevant, ist mit aufwändigeren, teureren und unvorhersehbareren Verfahren zu rechnen. Theorie im Sinne einer Theorie eines externen Beobachters kann hier als Störgröße fungieren und die Praxis im Falle dysfunktionaler Entwicklungen auf Möglichkeiten aufmerksam machen, die sie selbst nicht präsent hat,11 indem sie z. B. auf nichtintendierte Folgen bestimmter Systementscheidungen hinweist.12 Welche Rolle die zeitgenössische empirische Rechtsforschung hierbei spielen kann, erschließt sich mir derzeit noch nicht; jedenfalls scheint sie sich zu wenig von den Ansätzen der Vergangenheit zu unterscheiden, um eine ernsthafte Lösung der damals identifizierten Probleme anbieten zu können.13 ›Alter Wein in neuen Schläuchen‹ ist der Vorwurf, den sich auch Protagonisten dieses Blogs von älteren ›Rechtsempirikern‹ anhören mussten.14 Bessere Computer, komplexere Modelle, umfangreichere Datenbanken und Englisch als Publikationssprache sind wohl notwendig, aber nicht hinreichend für eine empirische Rechtssoziologie des 21. Jahrhunderts. Es bleibt also spannend.

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  1. Lautmann, Art. Norm, in: Klimke et al. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, 6. Aufl., Wiesbaden 2020, 538.
  2. Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen 1980, 10.
  3. Eine Problematik übrigens, die wohl eher genereller denn juristischer Art ist, vgl. z. B. Bauer/Gigerenzer/Krämer, Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet: Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik, Frankfurt am Main u. a. 2014.
  4. Ähnlich Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, Basel 1970, 7: »Gegenstand der Rechtswissenschaft ist die Jurisprudenz.« Weber und Luhmann sprechen von ›soziologischer vs. juristischer Beobachtung des Rechts‹; Hart von ›external vs. internal point of view‹.
  5. Ähnlich auch in der Ethik: Während in der Metaethik unter Philosophen quasi alles umstritten ist, schreiben Ethikkommission Gutachten, in denen metaethische Fragestellungen weder benannt noch diskutiert werden, vgl. z. B. jüngst das Gutachten der ›Datenethikkommission‹.
  6. Ogorek, Alltagstheorien/Sonntagstheorien. Zum Einsatz ›ungewissen Wissens‹ bei der Rechtsanwendung, in: Forstmoser/Honsell/Wiegand (Hrsg.), FS Walter, Bern 2005; Hoffmann-Riem, „Außerjuridisches“ Wissen, Alltagstheorien und Heuristiken im Verwaltungsrecht, Die Verwaltung 49 (2016), 1; Gigerenzer/Engel (Hrsg.), Heuristics and the Law, Cambridge, Mass. 2006.
  7. Vgl. z. B. Henke, Rechts- oder Tatfrage – Eine Frage ohne Antwort?, ZZP 81 (1968), 196.
  8. Vgl. z. B. Neumann, Rechtsontologie und juristische Argumentation. Zu den ontologischen Implikationen juristischen Argumentierens, Heidelberg; Hamburg 1979.
  9. Auch das gilt wiederum nicht nur für Juristen, sondern für alle, vgl. Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, München 2020, 313 ff. et passim.
  10. Upmeier, Fakten im Recht: Eine Untersuchung zur Tatsachenfeststellung im Rechtsprozess, Baden-Baden 2010, 111.
  11. Vgl. ähnlich Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, Frankfurt am Main 1986, 46 f.
  12. Böhlk/Unterseher, Die Folgen der Folgeberücksichtigung, JuS 20 (1980), 323.
  13. Nicht repräsentative Auswahl: Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, Tübingen 1974; Hopt, Was ist von den Sozialwissenschaften für die Rechtsanwendung zu erwarten?, JZ 30 (1975), 348; Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht. Bd. 3: Folgen von Gerichtsentscheidungen, Baden-Baden 2001, insb. II.: Wo verlaufen die Leistungsgrenzen gerichtlicher Entscheidungen?
  14. Vgl. z. B. Rottleuthner, Besprechung von Hanjo Hamann: Evidenzbasierte Jurisprudenz. Methoden empirischer Forschung und ihr Erkenntniswert für das Recht am Beispiel des Gesellschaftsrechts, JZ 71 (2016), 86.
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Zitiervorschlag
Walter, Über Fakten und Normen in Jurisprudenz und Wissenschaft, RECHTS|EMPIRIE, 14.01.2021, DOI: 10.25527/re.2021.01