Juristische Korrespondenzexperimente Eine Methode für den empirischen Zugang zum Antidiskriminierungsrecht

Nach § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) sind in weiten Teilen des Privatrechtsverkehrs Benachteiligungen „aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität“ unzulässig. Über die rechtspolitische Rechtfertigung dieses Verbots und seine praktische Ausformung wurde bereits viel geschrieben. Wie aber lässt sich strukturelle Diskriminierung überhaupt nachweisen?

Eine in den Sozialwissenschaften etablierte Vorgehensweise ist die sog. Korrespondenzstudie. Das bedeutet, dass eine vermutete Diskriminierung dadurch getestet wird, dass mit dem mutmaßlich Diskriminierenden unter verschiedenen Identitäten Kontakt aufgenommen wird. Dabei unterscheiden sich die verschiedenen Anfragen maßgeblich darin, ob der Anfragende eines der in § 1 AGG genannten Merkmale erfüllt oder nicht. Reagiert der mutmaßlich Diskriminierende auf die wesentlich gleichen Anfragen unterschiedlich, ohne dass dies allein durch den Zufall erklärbar wäre, so bleibt nur die Erklärung, dass er kausal auf das AGG-Merkmal reagiert. Eine systematische Diskriminierung ist damit belegt.

Methodisch ähnelt diese Herangehensweise derjenigen von Vignettenstudien (zu diesen Hamann, Evidenzbasierte Jurisprudenz 2014, S. 180-185), wird aber üblicherweise unter Realbedingungen durchgeführt und kann deshalb als Feldexperiment gelten (dazu ebd. S. 189-193). Korrespondenzstudien dieser Art erfreuen sich in den Sozialwissenschaften schon seit einiger Zeit großer Beliebtheit, wenn es um den Nachweis struktureller Diskriminierung geht. Dadurch gelang beispielsweise der Nachweis von Geschlechterdiskriminierung auf deutschsprachigen Arbeitsmärkten, ethnischer Diskriminierung am deutschen Arbeitsmarkt (immer und immer wieder), desgleichen am Schweizer Wohnungsmarkt und auf der deutschen Wohnungsplattform wg-gesucht.de. Auch das umgekehrte Vorgehen wurde eingesetzt und fiktive Identitäten als Anbieter auf (Beziehungs-, Nachhilfe- und Wohnungs-)Märkten genutzt, um diskriminierendes Nachfrageverhalten aufzudecken. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Neuerdings kommen Korrespondenzexperimente auch zum Einsatz, um diskriminierendes Marktverhalten jenseits der in § 1 AGG genannten Merkmale zu erforschen. Der Wirtschaftswissenschaftler Patrick Nüß von der Universität Kiel etwa berichtete auf dem ersten wissenschaftlichen Workshop des Netzwerks Plurale Ökonomik über eine seit 2017 durchgeführte Korrespondenzstudie auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu einem Unterscheidungskriterium, das in §§ 1, 6 ff. AGG bislang fehlt. Auch für den Diskriminierungsschutz im Wohnungsmarkt (§ 2 Abs. 1 Nr. 8 und § 19 Abs. 3 AGG) liegt nun eine neue Studie vor, die den Katalog diskriminierungsrelevanter Merkmale zu erweitern anregt:

Im aktuellen Heft der Neuen Zeitschrift für Mietrecht (NZM) präsentiert die Rechtswissenschaftlerin Julia Kraft von der HHU Düsseldorf gemeinsam mit Kollegen aus den Wirtschaftswissenschaften „empirische Befunde und (auch rechtsvergleichende) Überlegungen zum vertragsrechtlichen Diskriminierungsschutz von Leistungsempfängern der Grundsicherung für Arbeitsuchende“. Mit einer im Jahr 2018 durchgeführten empirischen Erhebung wollten die Autoren die Frage beantworten,

ob in angespannten Wohnungsmärkten Empfänger der Grundsicherung für Arbeitsuchende unter sonst gleichen Umständen die gleichen Chancen wie Bezieher von vergleichbar hohem Einkommen haben, für den Abschluss eines Mietvertrags berücksichtigt zu werden. (Kraft/Mense/Wrede, NZM 2020, 826, 827)

Dazu kontaktierten sie Vermieter in 68 deutschen Städten zu insgesamt 450 verschiedenen Wohnungsinseraten und gaben sich jeweils als Mietinteressenten aus. Die fiktive Identität der anfragenden Person, die sich als Teil eines Paarhaushalts mit zwei Kindern im Alter zwischen 10 und 13 Jahren ausgab, wurde nach Geschlecht und Erwerbstätigkeit systematisch variiert. Auf ihre Anfrage nach einem Besichtigungstermin registrierten die Autoren die Reaktion des Vermieters und beobachteten deutliche Unterschiede je nach Identität der Anfragenden:

Die erhobenen Daten zeigen deutliche Unterschiede sowohl zwischen den Geschlechtern (Männer erhielten systematisch weniger Antworten) als auch nach dem Bezug von Grundsicherung: Mieter mit Grundsicherung („Hartz-IV“) erhielten weniger Rückmeldungen und seltener positive Antworten (d.h. Anforderung weiterer Informationen, Angebote telefonischer Terminvereinbarung oder Vorschläge für Besichtigungstermine) als erwerbstätige Mieter („ohne Hartz-IV“ in obiger Grafik). Die Autoren der Korrespondenzstudie regen deshalb an,

ob der in § 19 I AGG festgelegte Katalog nicht um das Kriterium „Bezug von sozialen Mindestsicherungsleistungen“ erweitert werden sollte. Dass ein solcher Schritt nicht ungewöhnlich ist, zeigen die irischen Antidiskriminierungsgesetze, die seit 2016 das Merkmal „receipt of housing assistance“ als Diskriminierungsgrund im Hinblick auf Wohnraum enthalten. (Kraft/Mense/Wrede, NZM 2020, 826, 831)

Die Studie birgt nicht nur rechtspolitischen Diskussionsstoff, sondern könnte auch Vorbildwirkung für weitere Korrespondenzstudien zum deutschen Recht entfalten. Zumal sie, aktuellen Methodenstandards folgend, von der zuständigen Ethik-Kommission der FAU Erlangen-Nürnberg freigegeben wurde – bislang noch eine Seltenheit in der deutschen rechtsempirischen Forschung. Man darf mit Spannung den ausführlichen Studienbericht erwarten, der jenseits der NZM-Kurzfassung hoffentlich eine replikationsfähige Darstellung des Studienplans, eine ausführliche Beschreibung relevanter Merkmalsverteilungen und nähere Informationen zu den (bislang nur angedeuteten) Signifikanztests enthält. Erst diese Daten ermöglichen eine methodengerechte Würdigung und abschließende Bewertung des von den Autoren vorgelegten Zahlenmaterials.

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Hanjo Hamann unterrichtet Bürgerliches Recht, Wirtschafts- und Immaterialgüterrecht an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Wiesbaden. Er ist zudem Mitherausgeber der Internationalen Zeitschrift für Rechtslinguistik (JLL) sowie Gastforscher am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern.
Zitiervorschlag
Hamann, Juristische Korrespondenzexperimente, RECHTS|EMPIRIE, 20.10.2020, DOI: 10.25527/re.2020.05