Sind zwanzig Jahre zuviel? Die Dauer von Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist nicht nur Hüterin der Verfassung, sondern auch Hüterin der Zeit. Gerichtsverfahren sollen sowohl in ihrem Ergebnis Recht und Gerechtigkeit entsprechen, als auch in angemessener Zeit zu einem Ende geführt werden. Im englischsprachigen Raum finden sich für diese Prozessmaxime starke Phrasen wie “justice delayed is justice denied” (William Ewart Gladstone) oder “swift justice is the sweetest” (Francis Bacon). Im Deutschen reicht uns ein Wort, aber mit ähnlich vielen Buchstaben: der Beschleunigungsgrundsatz.

Einfachrechtlich ist der Beschleunigungsgrundsatz seit 2011 in den §§ 198 ff Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) und §§ 97a ff Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) kodifiziert. Er wird aber auch direkt aus dem Grundgesetz (GG) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hergeleitet. Zentral hierfür sind Art. 19 Abs. 4 GG (effektiver Rechtsschutz), Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaatsprinzip) und Art. 6 Abs. 1 EMRK (fair trial). Durch das BVerfG und den EGMR wird der Beschleunigungsgrundsatz in der Praxis regelmäßig und energisch verteidigt. Überlange Gerichtsverfahren sind gesetzes-, verfassungs- und konventionswidrig. Aber wie lang ist zu lang?

Das BVerfG schreibt hierzu in der aktuellsten Entscheidung seiner Beschwerdekammer:

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der verfassungsrechtlich garantierte Rechtsschutz nur dann im Sinne von Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG wirksam, wenn er innerhalb angemessener Zeit gewährt wird (…). Dem Grundgesetz lassen sich allerdings keine allgemein gültigen Zeitvorgaben dafür entnehmen, wann von einer überlangen, die effektive Rechtsgewährung verhindernden und damit unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen ist; dies ist vielmehr eine Frage der Abwägung im Einzelfall (…)

In vergleichbarer Weise verpflichtet Art. 6 Abs. 1 EMRK nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Konventionsstaaten dazu, ihr Gerichtswesen so einzurichten, dass die Rechtssachen innerhalb angemessener Frist entschieden werden können (…).

(Beschluss vom 22. März 2018, Vz 10/16, Rn. 9–10)

Keine allgemeine Regel, alles Einzelfall. Aber auch der Einzelfall hat harte Grenzen. Mir fällt keine Konstellation ein, in der eine Verfahrensdauer von 50 Jahren noch vertretbar wäre. Selbst 20 Jahre für ein Verfahren vor dem BVerfG, insbesondere nach einem bereits viele Jahre währenden Zug durch die unteren Instanzen, wirken auf den ersten Blick rechtswidrig. Aber sonst?

Die Beschwerdekammer des BVerfG

Die Betonung des Einzelfalls hat noch keine Jurist:in von dem Versuch abgehalten, aus einer Sammlung von Einzelfällen allgemeine Orientierungsregeln abzuleiten. Die relevanten normativen Überlegungen des BVerfG zur Angemessenheit der Verfahrensdauer in verfassungsrechtlichen Verfahren finden sich in den Entscheidungen der hauseigenen Beschwerdekammer, gekennzeichnet durch das Registerzeichen “Vz”. Auf der Webseite des BVerfG fanden sich dazu am 23. Oktober 2022 nur sieben begründete Entscheidungen, die letzte aus dem Jahr 2018. Davon war nur eine einzige erfolgreich und eine verfristet bzw. offensichtlich unbegründet (Rüge von lediglich 2 Monaten Verfahrensdauer). Der Rechtsbehelf der Verzögerungsbeschwerde besteht seit 2011, wird selten genutzt und ist noch seltener erfolgreich. Beispielsweise waren im Jahr 2020 nur vier Verzögerungsbeschwerden anhängig, die alle im selben Jahr verworfen wurden (drei aus 2019, eine aus 2020).

Erfolgreich war bisher nur eine einzige Verzögerungsbeschwerde wegen der insgesamt fünfeinhalbjährigen Verfahrensdauer einer Verfassungsbeschwerde (Beschluss vom 20. August 2015, Vz 11/14). Die anfängliche Klärung der Zuständigkeit innerhalb des Gerichts lief dermaßen chaotisch ab, dass das BVerfG im Ergebnis zweieinhalb Jahre Verzögerung feststellte (Rn. 50).

Alle anderen Verzögerungsbeschwerden waren erfolglos. Hinsichtlich einer anderen Verfassungsbeschwerde betrachtete das BVerfG vier Jahre und acht Monate als “unter Berücksichtigung der Aufgaben und der Stellung des Bundesverfassungsgerichts durch Sachgründe gerechtfertigt und damit nicht unangemessen”. (Beschluss vom 08. Dezember 2015, Vz 1/15, Rn. 38). Eine Verfahrensdauer von 27 Monaten hält das Gericht für unbedenklich (Beschluss vom 03. April 2013, Vz 32/12). In einem anderen Fall wurde eine Verzögerungsbeschwerde als nicht ausreichend begründet verworfen und die Angemessenheit der Verfahrensdauer offen gelassen. (Beschluss vom 30. Juli 2013, Vz 2/13) 18 Monate für ein Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren sind dem Gericht zufolge ebenfalls angemessen (Beschluss vom 30. August 2016, Vz 1/16).

Der Kollege Hamann kritisierte vor kurzem im Verfassungsblog das schleppende Verfahren zur Zweitverwertungspflicht von wissenschaftlichen Veröffentlichungen, das nun schon über fünf Jahre andauert (Hamann 2022). Allerdings merkt er selbst an, dass das BVerfG auch schon eine Verfahrensdauer von “sechs Jahren und fünf Monaten unter Beachtung der Besonderheiten des konkreten Falls nicht als unangemessen lang” beurteilt hat, wie das BVerfG im eingangs zitierten und aktuellsten Beschluss der Beschwerdekammer feststellte (BVerfG, Beschluss vom 22. März 2018, Vz 10/16).

Aus den wenigen veröffentlichten Entscheidungen der Beschwerdekammer geht demnach hervor, dass das BVerfG im Regelfall fünf bis sieben Jahre Verfahrensdauer für akzeptabel hält, der besonderen Stellung des Gerichts wegen. Die Datengrundlage hierfür ist mit sechs Entscheidungen aber selbst für Verhältnisse der traditionellen Rechtswissenschaft sehr dünn.

Richter:in in eigener Sache

Wechseln wir also in die Empirie und sehen uns die tatsächliche Verfahrensdauer des BVerfG an. Bei einer solchen Analyse handelt es sich mitnichten um einen Kategorienfehler, der Sein und Sollen vermischt: das BVerfG richtet über die Verfahrensdauer aller Gerichte, in Form seiner Beschwerdekammer aber auch über die eigene Verfahrensdauer. Die vier Richter:innen der Beschwerdekammer werden aus den gleichen 16 Richter:innen rekrutiert, die auch die Verfahren betreiben und priorisieren, über die die Beschwerdekammer richtet. Zusätzlich sind diese Richter:innen über vielfältige Abhängigkeiten (Kammermitgliedschaft, Senatsmitgliedschaft) dienstlich miteinander verbunden. Insbesondere ist das BVerfG ein sehr kleines Gericht, weshalb diese Verbindungen ein größeres Gewicht haben als an anderen Gerichten.

Es liegt auf der Hand, dass eine Richter:innenschaft in eigener Sache die eigene Tätigkeit wenig kritisch würdigt, weshalb der “Grundsatz, dass niemand in eigener Sache Richter sein kann (…) zu den Grundprinzipien des Rechtsstaats” gehört (BGH, Beschluss vom 28.03.2012, III ZB 63/10). Das die Berichterstatter:in des jeweiligen Verfahrens gem. § 97c Abs. 2 BVerfGG von der Entscheidung der Beschwerdekammer ausgeschlossen ist, ist eine nur unvollständige Umsetzung dieses Grundsatzes.

Dennoch: wegen der herausragenden Rolle des BVerfG in der deutschen Staatsorganisation bleibt dies wohl die beste unter schlechten Alternativen. Die endlose Saga um das polnische Verfassungsgericht und seine neue Disziplinarkammer zeigt, welche herausragende Bedeutung die Unabhängigkeit eines obersten Gerichts hat und wie schnell diese durch externe Mechanismen untergraben werden kann.

Die Beschwerdekammer des BVerfG richtet ausschließlich über die Verfahrensdauer vor dem BVerfG. Diese gesetzliche Sondersituation erlaubt uns einen ungewöhnlichen Kategoriensprung: wenn die gleichen Personen über Anspruch und Wirklichkeit entscheiden, dann können wir von der empirischen Wirklichkeit auf den normativen Anspruch des BVerfG schließen. Zudem erlaubt uns eine wissenschaftliche Aufbereitung der Datenlage eine öffentliche Diskussion über die Arbeitspraxis des BVerfG und einen fachlichen Austausch mit dem Gericht selbst. Da wo die Mechanismen der Selbstkorrektur schwach sind, kann der demokratische Diskurs Abhilfe schaffen.

Datengrundlage, Methodik und Einschränkungen

Blicken wir zunächst in die offizielle Jahresstatistik. Dort ist die Verfahrensdauer praktisch kein Thema. Nur für Verfassungsbeschwerden finden wir die durchschnittliche Verfahrensdauer für die Jahre 2011 bis 2020 auf Seite 22 als Kuchendiagramm in charmanten five shades of gray.1 Wir erfahren, dass 80% der Verfassungsbeschwerden in einem Jahr entschieden werden, 10% in zwei Jahren und 3% in drei Jahren. 2% werden erst nach mehr als drei Jahren entschieden, 5% bleiben anhängig. Mehr als drei Jahre? Gerade da wo die Angemessenheit der Verfahrensdauer in Frage steht, geben die offiziellen Daten keinerlei Auskunft mehr.

Nun sind wir noch nicht am Ende der Möglichkeiten, die eine datengestützte empirische Analyse bieten kann. Um die Verfahrensdauer zu schätzen, können wir auf zwei Angaben zurückgreifen, die jede Entscheidung enthält: das Eingangsjahr im Aktenzeichen und das Entscheidungsdatum. Beispielsweise erkennen wir aus dem Aktenzeichen “2 BvR 1483/19”, dass es sich um eine Verfassungsbeschwerde (“BvR”) vor dem 2. Senat aus dem Eingangsjahr 2019 mit der laufenden Nummer 1483 handelt. Entschieden wurde diese am 21. Juli 2022.

Als Datengrundlage nutze ich das Corpus der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (CE-BVerfG) in der Version 2022-08-24 (Fobbe 2022). Das CE-BVerfG enthält den gesamten am jeweiligen Stichtag auf der Website des Bundesverfassungsgerichts veröffentlichen Bestand an Entscheidungen im Volltext, inklusive der Metadaten. Sowohl das Aktenzeichen als auch das Entscheidungsdatum habe ich aus dem amtlich vergebenen European Case Law Identifier (ECLI) extrahiert. Für diesen Arbeitsschritt ist die Fehlerquote also mutmaßlich sehr gering (anders als bei der Extraktion aus dem Volltext).

Wir berechnen die geschätzte Verfahrensdauer indem wir schlicht das Eingangsjahr vom Entscheidungsjahr abziehen. In unserem Beispiel wäre das also: 2022–2019 = 3. Falls das Ergebnis 0 ist, heißt es einfach, dass das Verfahren im gleichen Jahr entschieden wurde. Das ist nicht so exakt wie es wissenschaftlich wünschenswert wäre, aber die genauen Eingangsdaten stehen leider nicht öffentlich zur Verfügung.

Der theoretische Messfehler für einzelne Entscheidungen beträgt hier bis zu einem Jahr plus (z.B. ein Verfahren welches im Januar 1990 eingeht und im Dezember 1991 entschieden würde) oder minus (z.B. ein Verfahren welches im Dezember 1990 eingeht und im Januar 1991 entschieden wird), ist aber im statistischen Sinne weniger gravierend, weil sich die gegenläufigen Schätzungen in der Aggregation ausgleichen. Im technischen Bericht habe ich den statistischen Messfehler mit Monte Carlo-Simulationen auf Basis von verschiedenen Gamma- und Beta-Verteilungen näher quantifiziert.2 Bei der Berechnung des Mittelwerts beträgt er wenige Tage und ist vernachlässigbar. Beim Median beträgt der Messfehler im besten Fall einen Monat, im schlimmsten Fall etwa vier Monate.

Die Analyse wird sehr konkrete Zahlen liefern. Diese sind aber aus einer ganzen Reihe von Gründen mit Vorsicht zu interpretieren:

  • Einschränkung 1: Es werden nur veröffentlichte und begründete Entscheidungen analysiert. Diese machen einen Bruchteil der gesamten Arbeitslast des Gerichtes aus. So hat das BVerfG beispielsweise im Jahr 2018 insgesamt 6.231 Verfahren erledigt, es wurden davon aber nur 276 begründete Entscheidungen veröffentlicht, die im CE-BVerfG dokumentiert werden konnten.
  • Einschränkung 2: Eine genauere Bestimmung der Verfahrenslänge als in Jahren ist nicht möglich, weil zwar das Entscheidungsdatum, nicht aber das Eingangsdatum bekannt ist.
  • Einschränkung 3: Manche Entscheidungen beenden mehrere Verfahren mit verschiedenen Aktenzeichen gleichzeitig. Es ist durchaus diskussionswürdig, ob diese Tatsache die Analyse nicht spürbar verzerrt. Ich meine es ist vertretbar, bei einer parallelen Verhandlung und Entscheidung von mehreren Aktenzeichen ex-post von einem Verfahren und nicht von mehreren zu sprechen.
  • Einschränkung 4: Im Falle mehrerer Aktenzeichen, die durch eine Entscheidung beendet wurden, ist das Eingangsjahr maßgeblich, welches in der ECLI dokumentiert ist. Dieses richtet sich nach dem Pilotverfahren.
  • Einschränkung 5: Für jedes einzigartige Aktenzeichen wähle ich die jeweils späteste Entscheidung aus. Es werden dabei grundsätzlich alle Entscheidungen miteinbezogen, ich entferne aber zuvor Entscheidungen, die nur die Festsetzung des Gegenstandswertes, die Erstattung notwendiger Auslagen, oder die Berichtigung vergangener Entscheidungen betreffen, sowie Erinnerungen und Gegenvorstellungen hierzu. Die Entfernung basiert auf eng formulierten regular expressions und kann daher durch Tippfehler, ungewöhnliche Formulierungen oder plötzliche Silbentrennungen im Text nicht alle solche Entscheidungen erkennen. In der Regel sollten die untergeordneten Entscheidungen aber zeitlich in der Nähe der Sachentscheidung ergangen sein und die Ergebnisse nicht spürbar verzerren.

Für alle Entscheidungen mit einer Verfahrensdauer von 10 oder mehr Jahren dokumentiere ich zudem den Volltext, weil es sich meiner Ansicht nach um eine mutmaßlich unangemessene Verfahrensdauer handelt. Alle Forscher:innen erhalten dadurch die Gelegenheit die einzelnen Verfahren im Rahmen einer Einzelfallprüfung genauer in den Blick zu nehmen und die Verfahrensdauer kritisch im Hinblick auf die Umstände und die gesellschaftliche Stellung des BVerfG zu würdigen.

Geschätzte Verfahrensdauer aller begründeten Entscheidungen des BVerfG, die bis zum Stichtag am 24. August 2022 veröffentlicht waren.
Abb. 1: Geschätzte Verfahrensdauer aller begründeten Entscheidungen des BVerfG, die bis zum Stichtag am 24. August 2022 veröffentlicht waren.

Wie lange dauern Verfahren vor dem BVerfG wirklich?

Das CE-BVerfG zählt 8.407 begründete Entscheidungen. Nach der Entfernung von untergeordneten Entscheidungen und der Begrenzung auf die jeweils späteste Entscheidung für jedes einzigartige Aktenzeichen sind noch 7.700 begründete Entscheidungen enthalten. Für jedes dieser Aktenzeichen habe ich eine geschätzte Verfahrensdauer in Jahren berechnet, in Frequenztabellen aufbereitet und visualisiert: für alle Spruchkörper (Abbildung 2), nur für Senate (Abbildung 3) und nur für Kammern (Abbildung 4). Im Diagramm für alle Spruchkörper sind der Vollständigkeit halber auch Entscheidungen der Beschwerdekammer und des Plenums enthalten, diese fallen aber mit zusammen lediglich neun Entscheidungen kaum ins Gewicht.

In allen Diagrammen ist auffällig, dass gar nicht so wenige Verfahren die schweigende Grenze der Jahresstatistik — drei Jahre — durchbrechen. 44 Verfahren überschreiten gar die psychologisch bedeutsame Marke von 10 Jahren. Eine einzige Entscheidung lässt sogar eine Verfahrensdauer von 21 Jahren vermuten. Der oben beschriebene Messfehler kann allerdings auf einzelne Kategorien in diesem Diagramm eine Auswirkung haben, die genauen Zahlen sollten daher nicht überintepretiert werden. Die Form der gesamten Verteilung ist allerdings aussagekräftig und bietet Hinweise für weitere Untersuchungen. Insbesondere ist sie konsistent mit der Rechtsprechung der Beschwerdekammer, die schnelle Verfahren fordert, aber eine Verfahrensdauer von fünf bis sieben Jahren vor dem BVerfG für angemessen hält.

Deutlich sichtbar ist auch, dass die komplexen und umfangreichen Senatsverfahren spürbar länger dauern. Der Median der Verfahrensdauer für Senatsverfahren liegt bei 2 Jahren, der für Kammern bei 1 Jahr. Der Messfehler für den Median liegt im schlimmsten Fall bei plus/minus 4 Monaten. Der Mittelwert für Senatsverfahren liegt bei 2,87 Jahren, der für Kammern bei 1,35 Jahren. Der Messfehler für den Mittelwert liegt bei wenigen Tagen und ist daher vernachlässigbar. Seltsam ist allerdings, dass auch bei den mutmaßlich einfacheren Kammerverfahren insgesamt 24 Verfahren eine Verfahrensdauer von 10 Jahren erreichen oder überschreiten. Aber auch die 20 Senatsverfahren mit Entscheidungen nach 10 oder mehr Jahren wirken unrühmlich.

Wie das BVerfG eingangs erwähnte, sind die Umstände des Einzelfalls von Bedeutung. Ein Blick in die Volltexte der 44 kritischen Entscheidungen zeigt, dass es sich hier mitnichten nur um unwichtige Verfahren handelt. Immerhin 12 Entscheidungen haben es später in die amtliche Sammlung geschafft. Darunter die berühmten Osho- und Glykol-Entscheidungen, die jeweils im Jahr 1991 eingingen und erst im Jahr 2002 entschieden wurden.

Bei einer genaueren Lektüre stellen sich die meisten Volltexte als für die jeweiligen Verfahren bedeutende Sachentscheidungen, insbesondere Nichtannahmebeschlüsse, heraus. Nur vier Entscheidungen scheinen nicht zeitkritisch zu sein: eine Festsetzung des Gegenstandswertes, eine Auslagenentscheidung, eine Einstellung eines ruhenden bzw. von den Anstragsteller:innen aufgegebenen Verfahrens und eine Kuriosität der Rechtsgeschichte mit sage und schreibe fast 21 Jahren Verfahrensdauer, dazu gleich mehr.

Die Einheit von quantitativer und qualitativer Analyse ist mir hier besonders wichtig: die Statistik kann nur eine vorläufige Einschätzung erlauben, die abschließende Bewertung kann und muss anhand des Volltextes und der gesamten Umstände des Einzelfalls vorgenommen werden.

Geschätzte Verfahrensdauer der begründeten Senats-Entscheidungen des BVerfG, die bis zum Stichtag am 24. August 2022 veröffentlicht waren.
Abb. 2: Geschätzte Verfahrensdauer der begründeten Senats-Entscheidungen des BVerfG, die bis zum Stichtag am 24. August 2022 veröffentlicht waren.
Geschätzte Verfahrensdauer der begründeten Kammer-Entscheidungen des BVerfG, die bis zum Stichtag am 24. August 2022 veröffentlicht waren.
Abb. 3: Geschätzte Verfahrensdauer der begründeten Kammer-Entscheidungen des BVerfG, die bis zum Stichtag am 24. August 2022 veröffentlicht waren.

20 Jahre Verfahrensdauer, oder: Warten auf BVerf-Godot

Unter den Volltexten fand sich auch eine absolute Kuriosität: mit einer einzigen Entscheidung hat sich das BVerfG sage und schreibe über 20 (!) Jahre Zeit gelassen. Aber von vorne:

Der Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 1237/91 wandte sich im Jahr 1984 an das Arbeitsgericht Bayreuth und erhielt am 22. August 1984 ein ihm nicht genehmes Urteil. Es folgten weitere ablehnende Entscheidungen des Landesarbeitsgerichtes Nürnberg am 8. Dezember 1986 und des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes am 19. April 1991, bis er schließlich 1991 Verfassungsbeschwerde beim BVerfG einreichte. Diese wurde abgewiesen und ihm am 11. Mai 1992 eine Missbrauchsgebühr in Höhe von 2.500 DM auferlegt. Die weitere Vorgeschichte ist unbekannt.

Der Beschwerdeführer stellte daraufhin einen Antrag, ihm die Missbrauchsgebühr nach § 21 Abs. 1 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG) wegen unrichtiger Sachbehandlung zu erstatten. Im Beschluss vom 30. Dezember 2012 (1 BvR 1237/91) verwarf das BVerfG diesen Antrag zutreffend als unzulässig — die Vorschriften des GKG sind auf Verfahren vor dem BVerfG nicht direkt anwendbar, analog aber auch nicht, weil es sich bei der Missbrauchsgebühr nicht um eine Prozesshandlung, sondern um eine unanfechtbare Sachentscheidung handelt.

Soweit so gut. Wenige Menschen beschäfigen sich gerne mit dem Kostenrecht und das ist in Ordnung. Die Sachentscheidung des BVerfG erging spätestens ein Jahr nach der Einreichung der Verfassungsbeschwerde. Völlig aus dem Rahmen fällt nur der Zeitraum, den das BVerfG für den letzten Beschluss benötigte: 20 Jahre und 7 Monate nach der Auferlegung der Missbrauchsgebühr.

Das BVerfG hatte in dieser Zeit selbstverständlich dringendere Probleme und eine Begründung für einen offensichtlich unzulässigen Antrag ist ungewöhnlich aufmerksam. Dennoch erinnert diese seltsame Episode des vergeblichen und langen Wartens auf eine Belanglosigkeit an ein berühmtes Stück des absurden Theaters: Warten auf Godot.

Das Rad der Zeit: Chord-Diagramme der Verfahrensdauer

Die Visualisierung mit Säulendiagrammen bietet den Vorteil großer Klarheit, ist aber auch eine starke Vereinfachung, bei der viel Information verloren geht. Die Anzahl der Eingänge und Erledigungen des Gerichts haben sich über die Zeit verändert und auch die Verteilung der Verfahrensdauern ist nicht immer konstant. Um diese sichtbarer zu machen, habe ich zwei experimentelle Visualisierungen erstellt: Chord-Diagramme für die Verfahrensdauer vor den Senaten (Abbildung 5) und den Kammern (Abbildung 6). Klicken Sie auf das Diagramm, um die hochauflösende Fassung zu betrachten! Viele interessante Details sind nur bei näherem Hinsehen erkennbar. Sie können auch die PDF-Fassung herunterladen, sie ist eine Vektor-Grafik und daher ohne Qualitätsverlust skalierbar.

Chord-Diagramme sind sehr komplex und bedürfen daher einer besonderen Erläuterung. Zunächst: für jedes Jahr sind sowohl Eingänge als auch Erledigungen sichtbar, sie bilden also direkt die Daten im Originalformat (Eingangsjahr und Entscheidungsjahr) ab, anders als die Balkendiagramme. Die für jedes Jahr durchgehenden kleinen Markierungen am Rand zeigen die Summe der Eingänge und Entscheidungen an. Eingänge haben einen ausgehenden Balken ohne Pfeil (der Stamm), Erledigungen einen eingehenden Pfeil (die Spitze).

Die Breite der Stämme bzw. Pfeile ist relativ zur Gesamtzahl der Entscheidungen, die aus einem Eingangsjahr in einem Entscheidungsjahr enden. Die Grundfarbe der Pfeile für ein bestimmtes Jahr sieht man am dicken Balken am Rand. Er ist Teil der Legende, nicht der Daten. Die Wärme der Farbe richtet sich nach dem Jahr: je älter desto kälter.

Verfahrensdauer vor den Senaten (1998-2021), Chord-Diagramm
Abb. 4: Verfahrensdauer vor den Senaten (1998-2021), Chord-Diagramm
Verfahrensdauer vor den Kammern (1998-2021), Chord-Diagramm
Abb. 5: Verfahrensdauer vor den Kammern (1998-2021), Chord-Diagramm

Welche Schlüsse können wir aus den Chord-Diagrammen ziehen? Senatsverfahren brauchen deutlich länger als Kammerverfahren. Wir wissen das zwar schon aus den Säulendiagrammen und allgemeiner juristischer Erfahrung, aber es ist wichtig, dass sich die Ergebnisse decken.

Wir sehen das an den vielen Linien, die im Senatsdiagramm der Mitte nahekommen, aber nicht bei dem Diagramm der Kammern. Im Idealfall würden die Linien sofort wieder in das gleiche Jahr zurückfallen oder maximal in das nächste Jahr übergehen. Je näher die Linien an der Mitte, desto mehr ist das Gericht von diesem Idealzustand schnellster Verfahren entfernt. Eine deutlich sichtbare Linie vom Jahr 2011 zum Jahr 2021 bei den Senatsverfahren zeigt zwei zehnjährige Verfahren. Diese betreffen vorausgezahlte Erbbauzinsen und den Solidaritätszuschlag. Beide sind in den sortierten Volltexten dokumentiert.

Wir können auch in etwa abschätzen, in welchem Jahr besonders viele interessante Verfahren eingingen, auch im Verhältnis zu den Erledigungen interessanter Verfahren. Ich schreibe “interessant”, weil es irgendwelche Gründe geben muss, weshalb das BVerfG eine Entscheidung begründet. Vermutlich sind viele davon gesellschaftlich besonders wichtig oder werfen besondere Rechtsfragen auf. Auf keinen Fall handelt es sich hier aber um den gesamten Arbeitsanfall des Gerichtes! Ich halte ihre Analyse dennoch für sinnvoll, denn die Kategorie der “begründeten Entscheidungen” bildet einen besonders wichtigen Ausschnitt der Tätigkeit des Gerichts ab.

Deutlich sichtbar ist zum Beispiel der große Corona-Schock im Jahr 2020, erkennbar durch die große Zahl Kammerentscheidungen, die im Jahr 2020 eingingen und unterjährig entschieden wurden. Bei den Senatsentscheidungen wurden praktisch keine Eingänge aus 2020 im selben Jahr entschieden, dafür umso mehr Eingänge aus dem Jahr 2021, die unterjährig entschieden wurden. Wir erkennen unterjährige Entscheidungen daran, dass die Farbe des eingehenden Pfeils der Grundfarbe des gleichen Jahres entspricht (die im dicken Balken am Rand). Der unterjährige Pfeil ist auch immer der erste eingehende Pfeil neben den ausgehenden Balken.

Besonders bemerkenswert: die Zahl von Eingängen und Erledigungen ist bei den Kammern in etwa gleich, mit Ausnahme der Corona-Jahre. Bei den Senaten hingegen gibt es immer wieder Jahre in denen eine Kategorie die andere sichtbar überwiegt, beispielsweise in den Jahren 1998, 2011, 2014, 2016, 2017, 2020 und 2021.

Wir können auch Zeiträume größerer Verfahrensverzögerungen erkennen. Bei den Kammern sieht es allgemein sehr gleichmäßig aus, bei den Senaten gibt es aber Zeiträume, wie von 1998 bis 2005 und 2011 bis 2021, in denen die vielen Linien nahe der Mitte eine allgemein längere Verfahrensdauer nahelegen.

Selbstverständlich haben Chord-Diagramme auch Schwächen. Das menschliche Auge ist nicht besonders gut im Ablesen von Winkeln. Auch sind Chord-Diagramme sehr komplex und ohne ausführliche Erläuterung kaum interpretierbar. Für geübte Analyst:innen stellen sie aber einen alternativen und spannenden Blick auf das Thema Verfahrensdauer dar.

Fazit

Diese empirische Analyse der Dauer von Verfahren vor dem BVerfG hat ein differenzierteres Bild gezeichnet, als es die offizielle Statistik des BVerfG und die Entscheidungen der Beschwerdekammer vermuten lassen. So finden sich 44 Entscheidungen mit einer bedenklich langen Verfahrensdauer von schätzungsweise 10 Jahren oder mehr. Die meisten davon sind nach Lektüre der Volltexte auch tatsächlich Sachentscheidungen. Eine Entscheidung erging erst nach 20 Jahren und 7 Monaten, taugt wegen ihres Gegenstands aber eher zum Kuriosum der Rechtsgeschichte, als zum Skandal.

Keines dieser 44 Verfahren wurde mit einer begründeten Entscheidung der Beschwerdekammer gewürdigt. Möglicherweise ergingen unbegründete Entscheidungen, diese wurden aber nicht veröffentlicht. Oder entsprechende begründete Entscheidungen wurden nie veröffentlicht. Vielleicht wurde ihre Verfahrensdauer auch nie angegriffen.

Man kann im Großen und Ganzen davon ausgehen, dass das BVerfG diese Verfahrensdauern und Priorisierungen für unbedenklich oder alternativlos hält. In jedem Fall ist eine gesellschaftliche Diskussion darüber wünschenswert, ob bedeutende Verfahren derart lang dauern dürfen oder ob das Recht auf effektiven Rechtsschutz und das Rechtsstaatsprinzip eine Beschleunigung fordern.

Source Code und technische Details

Der technische Bericht mit allen Rechenergebnissen, sowie der vollständige Source Code für alle Berechnungen und Visualisierungen in diesem Beitrag kann hier heruntergeladen werden: Source Code und Analyse-Ergebnisse. Dort finden Sie auch hochauflösende Fassungen aller Diagramme für die freie Weiterverwendung.

Die Berechnungen wurden mit der statistischen Programmiersprache R (R Foundation for Statistical Computing 2021) und data.table (Dowle et al 2022) durchgeführt. Visualisierungen bauen auf ggplot2 (Wickham et al 2022), circlize (Gu 2022) und viridis (Garnier et al 2021) auf. Der technische Bericht wurde mit knitr (Xie et al 2022) und kableExtra (Zhu et al 2022) erstellt. RcppTOML (Eddelbuettel 2020) und zip (Csárdi, Podgórski und Geldreich 2022) wurden für die Konfiguration und Erstellung der finalen Ergebnisse verwendet.

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  1. Von Kuchendiagrammen wird in der Datenvisualisierung allgemein abgeraten, weil das menschliche Auge Winkel nicht gut einschätzen kann. Siehe auch: https://www.data-to-viz.com/caveat/pie.html.
  2. Ich ziehe hierfür 1100 zufällige Tage aus dem Zeitraum Anfang 1980 bis Ende 2022 und generiere 1100 zufällige Verfahrensdauern in Tagen aus verschiedenen Gamma- und Betaverteilungen. Die Stichprobe ist 1100, da in etwa soviele Senats-Entscheidungen im Korpus vorhanden sind. Diese Verteilungen können so geformt werden, dass sie in etwa der empirischen Verteilung der BVerfG-Verfahrensdauern entsprechen. Diese exakten synthetischen Anfangs- und Enddaten reduziere ich dann auf das Eingangs- und Entscheidungsjahr und vergleiche den Messfehler für Mittelwert, Median und Summe. Bitte lesen sie den technischen Bericht für weitere Details und Visualisierungen der Verteilungen.
Distributed under the Creative Commons License CC BY 4.0
Zitiervorschlag
Fobbe, Sind zwanzig Jahre zuviel?, RECHTS|EMPIRIE, 13.12.2022, DOI: 10.25527/re.2022.03