Wie und warum zitieren Gerichte? Zitate und Verweise in Urteilen des BVerfG und des Supreme Court of Canada

In ihren Urteilen zitieren Gerichte ausgiebig unterschiedlichste Quellen; das können eigene vorherige Entscheidungen sein, fallspezifische Fachliteratur, aber auch literarische Texte. Ersteres mag wenig überraschen, denn die Berücksichtigung eigener Urteile sichert und demonstriert rechtsdogmatische Kohärenz. Letzteres wiederum wirft Fragen nach der Funktion von Zitaten in Urteilen auf: Zu welchen Zwecken berufen sich Gerichte auf Quellen, die keinerlei rechtliche Autorität für die Entscheidungsfindung aufweisen? Wie überhaupt lässt sich die Zitierpraxis in gerichtlichen Urteilen empirisch erfassen und auswerten? Und nicht zuletzt: Gibt es aus rechtsvergleichender Perspektive unterschiedliche Zitationspraktiken, etwa mit Blick auf die des Civil Law und diejenige des Common Law? Mit u.a. diesen Fragestellungen befasst sich das Projekt B02 des Sonderforschungsbereichs 1385 ‚Recht und Literatur‘ an der WWU Münster1 – hier ein Werkstattbericht.

Zitate lassen sich als explizit markierte Bezugnahmen auf andere Texte verstehen, und solche Bezugnahmen lassen sich wiederum auf ihre Funktionen hin befragen. Schon seit der antiken Rhetorik gelten Zitate als persuasionsbegünstigende Ornamente.2. In ihrer ornamentalen Funktion schmücken sie nicht nur einen Text, sondern auch den Zitierenden selbst. Zitieren kann daher als Akt der Selbstdarstellung interpretiert werden, denn Zitate vermögen ferner erstens, die Autorität eines Zitierten auf einen Zitierenden zu projizieren und zweitens können sie einem Zitierenden als „ehrfurchterheischende Belesenheitsausweise“ dienen.3 Derart intendierte Zitatfunktionen stellen in der Verfassungsrechtsprechung allerdings eher eine Ausnahme dar. Im „durch und durch intertextuell[en]“ Recht4 ist das Verhältnis zum Zitat eher ein „nüchtern-instrumentell-professionelles“.5 Wie auch im wissenschaftlichen Diskurs6 erweist sich die Zitierpraxis der Verfassungsrechtsprechung vor allem als Mittel einer in zweierlei Hinsicht ökonomischen Textproduktion. Wer zitiert, entledigt sich nicht nur kognitiv aufwändiger Formulierungsarbeit, sondern minimiert auch inhaltlichen Begründungsaufwand.

(Text-)Handlungen in Urteilen mithilfe intertextueller Bezugnahmen zu verkürzen oder gar zu ersetzen, entspricht einerseits der Funktionslogik des Rechts – das Recht kann schließlich nicht in jedem Rechtstext neu geschrieben werden. Andererseits warnen kritische Stimmen vor dem Zitat als „Begründungsersatz7 und dem daraus resultierenden Ausbleiben einer fallbezogenen Argumentation. Die  Rechtsprechung steht damit – besonders  im Falle wenn auch seltener rhetorisch-ornamental verwendeter Zitate aus nicht rechtskräftigen Quellen – vor einem Legitimationsproblem: Das Zitat wird bisweilen als „grundloser Grund rechtlicher Legitimität“8 eingesetzt.

Die theoretische Annäherung an die Funktion intertextueller Bezugnahmen zeigt, dass man mit einem Zitat eigentlich alles machen kann, was man will.9 Empirisch Forschenden drängt sich in Anbetracht der Vielfalt möglicher Zitatfunktionen mindestens eine grundlegende Frage auf: Mithilfe welcher Merkmale lassen sich die jeweiligen Funktionen nachweisbar identifizieren?

Ein Analysevorschlag sei mit folgendem Beispiel (1a authentisch, 1b manipuliert) eingeleitet:

(1a) In my opinion, Professor Charles Belleau provides a good description of the plaintiff’s burden at this preliminary stage: [translation] „All in all, the question of admissibility involves inquiring into whether, independently of the substantive issues, the right of action a litigant claims to have meets fundamental criteria that give the court the authority to consider it.”10

(1b) In my opinion, Professor Charles Belleau provides a problematic description of the plaintiff’s burden at this preliminary stage: [translation] „All in all, the question of admissibility involves inquiring into whether, independently of the substantive issues, the right of action a litigant claims to have meets fundamental criteria that give the court the authority to consider it.”

Eine simple Ersetzung offenbart, wie wenig Aufschluss die Analyse des Zitatinhalts über potentielle Zitatfunktionen gibt. Hinweise seiner individuellen Funktionalisierung finden sich ausschließlich aus der textuellen Umgebung, der Einbettungsweise. Einem Zitierenden steht ein reichhaltiges Instrumentarium evaluativer Semantisierungen zur Verfügung. Möchte er die dem Akt des Zitierens grundsätzlich inhärente Identifikation mit Zitatinhalten („You are what you cite“11) verstärken, ablehnen oder nuancieren, dienen ihm sowohl grammatische als auch lexikalische Mittel als Positionierungsmöglichkeiten. Geeignetes Werkzeug zur Analyse eben dieser Positionierungen bietet die Analyse epistemischer Modalisierungsprozeduren. Zu den Mitteln der Modalisierungsprozeduren, sprich der sprachlichen Markierung einer subjektiven Filterung, zählen u.a. epistemische Adjektive und Adverbien wie ‚good‘, ‚möglicherweise‘ und ‚possibly‘, der Konjunktiv als epistemischer, Distanzierung signalisierender Quotativ im Deutschen sowie auch explizite Meinungsmarkierungen wie ‚in my opinion‘. Letzteres Beispiel demonstriert die Fruchtbarkeit einer rechtsvergleichenden Perspektive: Der expliziten Subjektivität des SCC tritt die sprachlich suggerierte Objektivität in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts gegenüber. Kann daraus geschlossen werden, dass das BVerfG Zitate als Fakten und der SCC Zitate als Meinungen funktionalisiert?

Der vorliegende Werkstattbericht hat mehr Fragen gestellt als beantwortet. Er behandelt eine mögliche Perspektive auf  die Zitationsanalyse in Urteilen. Für eine umfassende Untersuchung von Zitaten in Urteilen muss ein ebenso umfassender Fragekatalog aufgestellt werden: Wie wird zitiert? Warum wird zitiert? Aber ebenso auch: Wer wird zitiert? Welches Gericht? Welche Art von Quelle? Wo bzw. in welchem Abschnitt des Urteils wird zitiert?

Letztlich gibt jede Frage, die man an die Zitierpraxis richtet, Aufschluss über die Argumentations- und Begründungskultur der Rechtsprechung.

Dieser Blog-Eintrag beruht auf dem Vortrag „How and Why Do Courts Quote? Quotations and References in the Verdicts of the Federal Constitutional Court and the Supreme Court of Canada”, gehalten auf der 5th General Conference of the International Language and Law Association, Universität Alicante am 9. September 2021.

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  1. Projektleitung: Prof. Dr. Niels Petersen & PD Dr. Lars Korten; wissenschaftliche Mitarbeiterinnen: Laura Wittmann und Joy Steigler.
  2. S. 15 in Berg, Willem van den (2000): Autorität und Schmuck. Über die Funktion des Zitates von der Antike bis zur Romantik. In: Beekman, Klaus & Grüttemeier, Ralf (Hrsg.): Instrument Zitat. Über den literarhistorischen und institutionellen Nutzen von Zitaten und Zitieren, Amsterdam: Rodopi, 11–35.
  3. S. 148 in Jestaedt, Matthias (2010): Autorität und Zitat: Anmerkungen zur Zitierpraxis des Bundesverfassungsgerichts. In: Jacob, Joachim & Mayer, Matthias (Hrsg.): Im Namen des anderen: Die Ethik des Zitierens, Leiden, Niederlande: Wilhelm Fink, 141–160.
  4. S. 69 in Morlok, Martin (2015): Intertextualität und Hypertextualität im Recht. In: Vogel, Friedemann (Hrsg.): Zugänge zur Rechtssemantik, Berlin/ Boston: De Gruyter, 69–90.
  5. S. 149 in Jestaedt 2010, wie zuvor.
  6. Vgl. Jakobs, Eva-Maria (1999): Textvernetzung in den Wissenschaften: Zitat und Verweis als Ergebnis rezeptiver, reproduktiver und produktiver Prozesse, Tübingen: Niemeyer.
  7. S. 15 in Jestaedt 2010, wie zuvor.
  8. Holzleithner, Elisabeth/ Mayer-Schönberger, Viktor (2000): Das Zitat als grundloser Grund rechtlicher Legitimität. In: Feldner, Birgit & Forgó, Nikolaus (Hrsg.): Norm und Entscheidung, Wien, New York: Springer, 318–351.
  9. Zur Problematik der Funktionsanalyse von Zitaten siehe auch Hamann, Hanjo (2014): Die Fußnote, das unbekannte Wesen – Potential und Grenzen juristischer Zitationsanalyse. In: RW 4, 501–534.
  10. Brunette v. Legault Joly Thiffault, s.e.n.c.r.l. 2018 SCC 55 – 07.12.2018, Hervorhebung durch J.S.
  11. S. 45 in Berkenkotter, Carol & Huckin, Thomas (1995): Genre Knowledge in Disciplinary Communication: Cognition/culture/power. London/New York: Routledge.
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Zitiervorschlag
Steigler, Wie und warum zitieren Gerichte?, RECHTS|EMPIRIE, 13.12.2021, DOI: 10.25527/re.2021.12