Die Umsetzung neuer Lehr-Lern-Formate in der juristischen Ausbildung Online-Symposium »Rechtsdidaktik – Was wissen wir darüber; was wirkt?«

Die Didaktik der Rechtswissenschaft ist ein stetig wachsendes Forschungsgebiet im Spannungsfeld von allmählicher wissenschaftlicher Durchdringung und teils hitziger Reformdiskussion. Dafür sind belastbare empirische Erkenntnisse besonders wichtig, um beurteilen zu können, welche didaktischen Innovationen hilfreich sind, wo Verbesserungspotentiale bestehen und wie die juristische Ausbildung wirklich „funktioniert“. Ein R|E Online-Symposium widmet sich diesen Fragen und lässt im Verlauf mehrer Monate Wissenschaftler:innen aller Karrierestufen zu Wort kommen. (Red.)

I. Individualisierung – Digitalisierung – Lerneffizienz

Moderne Hochschuldidaktik kommt nicht ohne die Digitalisierung aus, weil sie das Lernen effizienter machen kann. Die Digitalisierung ermöglicht es ganz allgemein, Massenprodukte zu individualisieren – das Produkt kann sich von Nutzerin zu Nutzer unterscheiden, ganz so wie sich Smartphones unterschiedlicher Nutzer:innen einerseits vollkommen gleichen und andererseits vollkommen unterscheiden. Darin liegt eine große Chance, gerade für Massenstudiengänge wie Jura. Aus unserer Sicht wird sich insbesondere die Lehre der Rechtswissenschaft deshalb stark im Zusammenspiel von klassischer, persönlicher „chalk and talk“-Lehre mit den Möglichkeiten, die das Internet und digitale Formate bieten, fortentwickeln.

Das Jurastudium erfordert ein hohes Maß an Eigenverantwortung. Am Selbstlernen führt deshalb kein Weg vorbei. Die Studierenden stehen gerade zu Beginn ihres Studiums vor der Herausforderung, eigene Lernstrategien und -gewohnheiten zu entwickeln. Der effektivste Lernweg hängt damit immer maßgeblich vom Individuum ab. Durch seine Form macht beispielsweise das Smartbook Grundrechte den Studierenden verschiedene Angebote, um sich die Grundrechte zu erarbeiten; es geht dabei insofern über ein klassisches Lehrbuch hinaus, als es die Bestimmung des Lernwegs dem Studierenden überlässt, den Lernweg individualisierbar macht: Lerne ich bspw. primär mit einem geschriebenen Text oder ist mir die Wissensvermittlung durch Lernvideos oder Podcasts eingängiger? Mit welchen Fällen übe ich die Anwendung? Prüfe ich meinen Lernerfolg anhand der formulierten Lernziele oder nutze ich dafür die Apps, wie etwa Jurafuchs? Arbeite ich mit einem gedruckten Buch oder am Bildschirm?

Dreh- und Angelpunkt juristischen Lernens wird allerdings weiterhin die Präsenzveranstaltung bleiben – und Medien wie das Smartbook Grundrechte und insbesondere die Lernvideos werden, können und sollen den Besuch einer Vorlesung nicht ersetzen. Die persönliche Interaktion ist, das zeigen Studien immer wieder, motivational und kognitionspsychologisch ein kaum hoch genug einzuschätzender Erfolgsfaktor beim Lernen. Gleichwohl besteht auch hier noch Entwicklungspotential, etwa in Gestalt der Lehr-Lern-Methode des Blended-Learning in der Ausprägung als Flipped-Classroom, welche die Vorteile von E-Learning und Präsenzlehre verbinden soll (eingehend Towfigh/Keesen/Ulrich, in: ZDRW 2022, S. 87).

II. Lehr-Lern-Methode des Blended-Learning in der Ausprägung als Flipped-Classroom

Unter Blended-Learning versteht man die Verbindung von E-Learning und Präsenzlehre im Allgemeinen. Bei der Methode des Flipped-Classroom wird der (Präsenz-)Lehrveranstaltung eine Selbstlernphase vorangestellt. Die Selbstlernphase dient dem von den Studierenden selbst gesteuerten Wissenserwerb. Ziel der als E-Learning ausgestalteten Selbstlernphase ist, dass die Studierenden sich (vorbereitend) das wesentliche Faktenwissen erarbeiten. Die E-Learning-Einheiten bestehen dabei aus Videos, anhand derer den Studierenden das grundlegende Wissen, also beispielsweise die dogmatischen Lernhinhalte zu den Grundrechten vermittelt werden. So gelingt es mit Lernvideos etwa, verschiedene Lerngewohnheiten optimal anzusprechen: Das Video selbst kann angeschaut werden, mit einem visuellen oder auch auditiven Fokus. Unterstützende Vorlesungsunterlagen können (mit-)gelesen und bearbeitet werden, auch hierdurch werden die Studierenden multimedial mit dem Lernstoff in Kontakt gebracht. Freilich ist die Nutzung von Lernvideos nicht das einzig denkbare Medium für die E-Learning-Phase. Denkbar sind auch rein auditive Medien, wie Podcasts.

In der Präsenzveranstaltung werden anschließend keine neuen bzw. unbekannten Themen verhandelt, vielmehr folgt nun eine kontext- und entwicklungsorientierte, vertiefte Auseinandersetzung mit dem bereits erworbenen Wissen und die fallbezogene Anwendung. Dass in der Vorlesung nicht mehr Wissens-, sondern Fähigkeitserwerb im Mittelpunkt steht, ist für Lehrende wie Lernende zunächst ungewohnt. Deshalb muss darauf geachtet werden, dass für Reflektion und Anwendung der Inhalte genügend Raum geschaffen wird. Die Präsenzveranstaltung darf nicht zur bloßen Fragestunde verkommen. Setzt man konsequent voraus, dass der Stoff der E-Learning-Einheiten bekannt ist, lässt man nur punktuelle Verständnis- und Nachfragen zu und konzentriert sich im Übrigen die meiste Präsenzzeit auf Vertiefung, Kontextualisierung und Fallbearbeitung, so zeigt die Erfahrung eine erhebliche Motivation der Studierenden, sich gut auf die Präsenzeinheiten vorzubereiten, eine ungekannte Beteiligung und Interaktivität der Studierenden und ein eindrucksvolles Lernerlebnis für Studierende wie Lehrpersonen.

III. Erfahrungen mit dieser Lehr-Lern-Methode

Bisherige Studienergebnisse zeigen, dass regelmäßig ein positiver Effekt von Blended-Learning- bzw. Flipped-Classroom-Konzepten auf die Studienergebnisse der Teilnehmenden nachgewiesen werden kann – und das sowohl verglichen mit reinen E-Learning-Angeboten als auch mit reiner Präsenzlehre (vgl. etwa die Meta-Studie von Cheng/Ritzhaupt/Antonenko, in: Educational Technology Research and Development 67 (2019), S. 793 (797 f., 813); vgl. auch Thai/De Wever/Valcke, in: Computers & Education 107 (2017), S. 113 (122)).

Auf Grundlage dieser Erkenntnisse wird auch die Vorlesung „Grundrechte und Verfassungsprozessrecht“ an der EBS Law School seit 2019 in einem Blended-Learning-Konzept mit der „Flipped Classroom“-Methode gelesen. In der Evaluation der Kurse wurden die Wahrnehmungen und Einstellungen der Studierenden zum eingeführten Blended-Learning/Flipped-Classroom-Konzept ausführlich abgefragt (dazu eingehend Towfigh/Keesen/Ulrich, in: ZDRW 2022, S. 87). Ziel der Befragung war es unter anderem, die Wahrnehmungen der Effektivität des Blended-Learning/Flipped-Classroom-Konzepts zu ermitteln und schließlich das Konzept aus studentischer Sicht mit der reinen Präsenzlehre zu vergleichen. Nach unserem Verständnis ist ein Lehrkonzept effektiv, wenn es dem (subjektiv wahrgenommenen) Erkenntnisgewinn und Studienfortschritt der Studierenden zuträglich ist, sich also positiv auf den (wahrgenommenen) Lernerfolg auswirkt.

Die Studierenden sollten Aussagen (Items) zu ihren Einstellungen zum Blended-Learning/Flipped- Classroom-Konzept des Kurses anhand einer fünfstufigen Likert-Skala bewerten (1 = „trifft nicht zu“ bis 5 = „trifft vollkommen zu“). Dabei haben 63 der 83 Studierenden aus dem Durchgang 2019 (Studienanfänger-Kohorte 2019) und 51 der 88 Studierenden aus dem Durchgang 2020 (Studienanfänger-Kohorte 2020) an der Befragung teilgenommen, was einer vergleichsweise hohen Rücklaufquote von 75,9 % (2019) respektive moderaten von 58 % (2020) entspricht.

IV. Wahrnehmungen der Effektivität des Blended-Learning/Flipped-Classroom-Konzepts

Insgesamt fünf Items der Evaluation haben sich mit Einstellungsfragen zum wahrgenommenen Leistungserfolg der Studierenden beschäftigt. Im arithmetischen Mittel wurde die Effektivität des Blended-Learning/Flipped-Classroom-Konzepts insgesamt, also über die fünf Items hinweg, von der Kohorte 2019 moderat positiv mit 3,55 bewertet, von der Kohorte 2020 mit 3,92 noch etwas positiver. Das Item, ob die Studierenden meinen, einen guten Überblick über den Stoffinhalt der Grundrechte gewonnen zu haben, bewertete die Kohorte 2019 im arithmetischen Mittel mit 3,97, die Kohorte 2020 mit 4,22. Kein Student in der Kohorte 2019 und nur 2 % der Studierenden in der Kohorte 2020 bewerteten das Item mit 1 auf der Likert-Skala. Ähnlich, wenn auch mit leicht niedrigeren Werten, verhält es sich mit dem Item, das abfragt, ob die Studierenden meinen, dass sich ihr Wissen über die Grundrechte nachhaltig verfestigt habe. Hier liegen die arithmetischen Mittel der Kohorte 2019 bei 3,35 und der Kohorte 2020 bei 3,76 auf der Likert-Skala. Dabei ist zu erkennen, dass die Kohorte 2020 das Item deutlich häufiger mit den positiven Werten 4 und 5 bewertet als die Kohorte 2019.

V. Einstellungen der Studierenden zum Blended-Learning/Flipped-Classroom-Konzept und zur reinen Präsenzlehre

Schließlich interessierte uns der Vergleich zwischen den Einstellungen der Studierenden zum Blended-Learning/Flipped-Classroom-Konzept und zur reinen Präsenzlehre. Dazu wurden zwei Items abgefragt, zum einen, ob die Studierenden aus ihrer Wahrnehmung heraus einen Mehrwert der Lernvideos gegenüber der herkömmlichen Vorlesung ausmachen können und zum anderen, ob sie lieber Lernvideos schauen als an einer Vorlesung in Präsenz teilzunehmen.

Das Bild mag zunächst paradox erscheinen: Zwar bewertet die Hälfte oder mehr als die Hälfte der Studierenden beider Kohorten das Item, ob die Lernvideos einen Mehrwert bieten, mit Werten von 4 oder 5 auf der Likert-Skala, stimmen der Aussage also eher oder vollkommen zu. Gleichzeitig stimmen der Aussage, dass sie lieber die Videos schauen als in eine herkömmliche Vorlesung zu gehen, demgegenüber nur 30,7 % in der Studierenden der Kohorte 2019 und gerade einmal 15,7 % der Studierenden in der Kohorte 2020 eher oder vollkommen zu.

Auf den zweiten Blick unterstreicht dieses Ergebnis gerade den Vorteil eines Blended-Learning-Formats: Die Studierenden profitieren von den Vorteilen der E-Learning-Einheiten, ohne auf Präsenzlehre verzichten zu müssen. Hier findet sich ein Ansatzpunkt für weitere Evaluationen und Befragungen künftiger Kohorten, um genauer herauszufinden, worin der Mehrwert der Lernvideos aus Sicht der Studierenden genau besteht. Ein zweiter auffälliger Punkt ist, dass die Kohorte 2019 in deutlich größerem Umfang angibt, lieber die Lernvideos zu schauen als an einer Präsenzvorlesung teilzunehmen, obwohl sie hinsichtlich der Effektivitäts-Items eine kritischere Einstellung zum Blended-Learning-Konzept aufweist als die Kohorte 2020. Auch dies bietet einen Ansatz, um die Evaluation auszudifferenzieren und den Zusammenhang zwischen wahrgenommener Effektivität und der grundsätzlichen Einstellung zum Konzept genauer zu untersuchen, möglicherweise auch um eine Befragung zu Beginn der Vorlesung zu ergänzen, um mögliche Einstellungsänderungen im Verlauf der Vorlesung untersuchen zu können.

VI. Fazit

Blended-Learning/Flipped-Classroom-Konzepte können die juristische Ausbildung bereichern und ihre Vielfalt steigern. Sie stellen eine Alternative zur überkommenen Präsenzlehre in Form der reinen Vorlesung dar. Im angelsächsischen Raum ist diese für Lehrende und Lernende gleichermaßen oftmals anregendere Form der Lehre inzwischen vorherrschend. Gleichzeitig bindet ihre Durchführung in ganz erheblichem Umfang Ressourcen. Dennoch lohnen sich diese Investitionen aus unserer Sicht: Über diesen Ansatz werden viele Lerntypen angesprochen, die enge Verzahnung von E-Learning-Einheit, Präsenzlehre und Arbeitsgemeinschaft ermöglicht einen vertieften Wissenserwerb mit integrierten Wiederholungsmöglichkeiten für die Studierenden und gibt ihnen über die Aufteilung in Lerneinheiten einen Leitfaden an die Hand, wie die Lerninhalte systematisch erschlossen werden können. In diese Richtung wollen wir mit dem Smartbook Grundrechte auch gehen. Das Smartbook versucht, in einer didaktisch klug strukturierten Art und Weise viele Inhalte anzubieten. Aber: Aufgrund der Materialfülle kann natürlich nicht jeder Inhalt des Buchs genutzt werden – die Lernenden müssen eine Auswahl treffen. Das ist alles sehr effizient und kommt auch der modernen Arbeitspraxis sehr nah.

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Emanuel V. Towfigh ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Empirische Rechtsforschung und Rechtsökonomik an der EBS Law School und Professor für Rechtsökonomik an der EBS Business School; er ist außerdem Research Affiliate am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern. Zurzeit befasst er sich in seiner Forschung v.a. mit Fragen aus dem Bereich der Demokratietheorie, dem Recht der Digitalisierung, der Rechtsdidaktik und dem Antidiskriminierungsrecht.
EBS Universität für Wirtschaft und Recht
Wiesbaden, Deutschland
EBS Universität für Wirtschaft und Recht
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Zitiervorschlag
Towfigh, Gleixner, Keesen und Ulrich, Die Umsetzung neuer Lehr-Lern-Formate in der juristischen Ausbildung, RECHTS|EMPIRIE, 08.08.2023, DOI: 10.25527/re.2023.11