Die nächsten zehn Jahre. Zukunftsperspektiven interdisziplinärer Ausbildung Online-Symposium »Empirische Wende«

Vor zehn Jahren veröffentlichte Niels Petersen einen Beitrag zur Frage, ob die Rechtswissenschaft eine »empirische Wende« brauche. Der Text provozierte vielfältige Reaktionen, darunter eine scharf formulierte Replik von Ino Augsberg gegen den »neuerdings erhobenen empiristischen Ton in der Rechtswissenschaft«. Zehn Jahre später greift ein R|E Online-Symposium die Debatte noch einmal auf: Sind wir heute klüger? Haben die Zeitläufte einer Seite Recht gegeben? Oder war es am Ende ein Streit, der sich an Begrifflichkeiten entzündete, gar ein Missverständnis? Die Initiatoren der Debatte und weitere Autoren beziehen zu diesen Fragen Stellung. (Red.)

I. Status quo

In seinem Beitrag zu diesem Symposium berichtet Petersen für das öffentliche Recht von einer international zunehmenden Popularität empirischer Rechtsforschung. Den Eindruck größerer Beliebtheit gewinne ich auch bei einem Blick auf die deutsche (!) Zivilrechts- und insbesondere Unternehmensrechtsforschung der letzten zehn Jahre, wobei das „neue“ Interesse zum Teil ein Wiederaufleben der bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts von Arthur Nussbaum begründeten Tradition der Rechtstatsachenforschung sein dürfte,1 vor allem aber auch Hand in Hand mit der wachsenden Beliebtheit der Rechtsökonomik als theoretischem Rahmen einhergegangen ist.2

Richtet man den Blick auf die in der letzten Dekade entstandene rechtsempirische Forschung, so zeigen sich drei Dinge. Zum einen wird erkennbar, dass Rechtswissenschaftler:innen und auch Praktiker:innen im Bereich des Unternehmensrechts in zunehmenden Maße als Produzent:innen (und nicht nur als Rezipient:innen, Übersetzer:innen oder Begleiter:innen) empirischer Forschung in Erscheinung treten.3 Zweitens wollen insbesondere die Rechtswissenschaftler:innen immer häufiger unter Heranziehung empirischer und anderer sozialwissenschaftlicher Methoden „nichteingebettete Forschung“,4 „rationale Rechtspolitik“5 beziehungsweise „Rechtswissenschaft als Realwissenschaft“6 betreiben.

Drittens ist festzustellen, dass die Anzahl der empirisch arbeitenden Rechtswissenschaftler:innen weiterhin überschaubar ist, auch wenn sie zuweilen eine hohe Spezialisierung auf sozialwissenschaftliche Methoden aufweisen. Das ist nicht sonderlich überraschend, haben doch schon Petersen7 und Tischbirek die hohen Investitionsausgaben in den Blick genommen, derer es bedarf, um im Umgang mit dem sozialwissenschaftlichen Werkzeugkasten einigermaßen sicher zu werden. Es mag sein, dass diese Methodenausbildung für viele Rechtswissenschaftler:innen unvollständig bleiben muss, sie nicht zugleich exzellente Norminterpret:innen und hervorragende Statistiker:innen sein können. Der Erwerb solider Methodenkenntnisse, die bei quantitativen Projekten etwa formal-mathematische Aspekte umfassen müssen, ist indes auch für diejenige Rechtswissenschaftlerin unerlässlich, die sozialwissenschaftliche Forschung nur „übersetzen“ bzw. „begleiten“ will oder ein gemeinschaftliches Projekt mit einer Sozialwissenschaftlerin anstrebt.

II. Junge Wilde

Hält man also zehn Jahre nach dem Erscheinen von Petersens Aufsatz im STAAT Rückschau, lässt sich nach dem oben Gesagten jedenfalls für den Bereich der deutschen Unternehmensrechtsforschung schließen, dass empirische Ansätze einen erfreulichen Bedeutungsaufschwung erfahren haben. Doch ist es wohl zu früh, die Rechtsempirie bereits als etabliert anzusehen: empirisch arbeitende Jurist:innen sind an den meisten Fakultäten weiterhin Einzelkämpfer:innen. Empirische Methoden sind vielerorts nur kaum oder gar nicht Teil des Lehrangebots. Die deutsche Rechtswissenschaft spiegelt damit zwei Entwicklungen ihres Umfelds aus dem letzten Jahrzehnt nur unzureichend wider: Zum einen handelt es sich dabei um die fortschreitende „Datifizierung“ der Gesellschaft. Zum anderen wendet sich der internationale rechtswissenschaftliche Diskurs immer stärker sozialwissenschaftlichen Perspektiven zu,8 die dort zunehmend die Funktion einer „gemeinsamen Sprache“ einnehmen.

Wer das bislang Erreichte vor diesem Hintergrund für ausbaufähig befindet, wird sich überlegen müssen, wie man in den nächsten zehn Jahren mehr Jurist:innen für rechtsempirische Forschung begeistern und sie dazu bewegen kann, sich die erforderlichen Methodenkenntnisse anzueignen. Eine höhere Anzahl rechtsempirisch interessierter und versierter Forscher:innen an juristischen Fakultäten würde nicht nur zu einer höheren Quantität empirischer Arbeiten führen, sondern auch die Qualität und die Reichweite solcher Forschung erhöhen, weil diese einem größeren (kritischen9) Publikum ausgesetzt wäre.10 (Gleichzeitig mehrt sich dadurch das Anschauungsmaterial für eine Diskussion über Empirie(n), was der von Augsberg11 geforderten „Entwicklung komplexerer Verständnismodelle“ zuträglich sein dürfte.)

Den Grund für die derzeitige „Statistenrolle“ empirischer Rechtsforschung sehe ich heute eher weniger in einem Verkennen ihres wissenschaftlichen Potenzials als in den bereits erwähnten Lerninvestitionen, die es dafür auf sich zu nehmen gilt. Wer einen „Empirical Turn“ will, muss meines Erachtens an dieser Stelle ansetzen und günstige(re) Rahmenbedingungen schaffen. Dabei sind insbesondere die Bedingungen für den juristischen Nachwuchs in den Blick zu nehmen, unter denen dieser sozialwissenschaftliche Methodenkompetenzen aufbaut. Regelmäßig ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis von solchen Lerninvestitionen im Stadium des Studiums günstiger als für den Ordinarius (oder die Praktikerin). Wissenschaftliche „Wenden“ haben schon immer junger Wilder bedurft, die sie herbeiführen.

III. Lehrjahre

Vor diesem Hintergrund wäre eine (bessere) Integration in das Studienangebot wünschenswert. In dogmatischen Pflichtveranstaltungen sollten relevante empirische Erkenntnisse stets mitvermittelt werden, um das Bewusstsein der Studierenden für Empirie zu schärfen. Zur Einführung in empirische Forschungsmethoden kommen neben einer stärkeren Betonung methodischer Aspekte bei der Konzeption der an manchen Fakultäten angebotenen Vorlesungen zur Rechtssoziologie vor allem niedrigschwellige, eigenständige Lehrveranstaltungen in Frage. Wochenendvorlesungen und Seminare in Berlin haben mir im vergangenen Jahr gezeigt, dass man das Interesse der Studierenden an solchen Veranstaltungen nicht unterschätzen sollte.

Einführungsveranstaltungen dieser Art sollten methodischen Grundkenntnisse vermitteln und insbesondere für normative Entscheidungen sensibilisieren, die Empiriker:innen im Rahmen des Forschungsdesigns treffen (müssen). Die Studierenden sollten idealerweise in die Lage versetzt werden, die Relevanz(en) empirischer Forschung für die Bildung und Beantwortung rechtliche Fragestellungen zu erkennen, einschlägige Forschung zu finden, deren Ergebnisse ansprechend zu würdigen und sie auf dieser Grundlage etwa in Haus- oder Seminararbeiten einzubinden.12 Unrealistisch wäre hingegen die Erwartung, dass die Studierenden nach einem solchen Kurs zur eigenständigen Produktion von empirischer Forschung (und Forschung über Empirie) in der Lage wären. Da die allermeisten Jurafakultäten hierfür bislang keine dezidierten Lehrangebote bereithalten (und wie erwähnt vielerorts auch noch keine einschlägige Forschungscommunity existiert), stehen der sozialwissenschaftlich geneigten Juristin hierzulande nur noch ein Zweit- oder das Selbststudium zur Verfügung. Beide Wege sind aber nicht ideal. Ein reines Selbststudium stellt besondere Herausforderungen an Lerntyp und -motivation und wird deshalb nicht für alle Jurist:innen „das Richtige“ sein.  In einem Zweitstudium müssen die Zusammenhänge zur Rechtswissenschaft eigenständig erarbeitet werden.

IV. Königsweg Auslandsstudium?

Unter dem status quo überrascht es nicht, dass viele der heute (auch) sozialwissenschaftlich arbeitenden Rechtswissenschaftler:innen ein Aufbaustudium oder einen Forschungsaufenthalt im angloamerikanischen Ausland absolviert haben, wo sie Zugang zu einem breiteren und passgenaueren Kursangebot sowie zu einer größeren rechtsempirischen Forschungscommunity haben. Vielerorts werden angesichts der großen Nachfrage entsprechende Kompetenzen auf- und ausgebaut, sind die entsprechenden Postgraduiertenkurse für die Hochschulen doch sehr lukrativ. In den USA haben mittlerweile alle „T14“ Law Schools Masterprogramme mit rechtsökonomischen Moduloptionen; an mehr als der Hälfte von ihnen können rechtsempirische Vorlesungen und Seminare besucht werden, die zum Teil durch Workshops, Labs und andere Formate ergänzt werden. Mit dem J.S.M. gibt es in Stanford einen dezidiert rechtsempirischen Masterabschluss.

Gleichwohl kann es sich bei einem Auslandsaufenthalt aus mehreren Gründen nicht um den “Königsweg“ interdisziplinärer Ausbildung handeln: Zum einen sind die Gebühren für die Teilnahme an einem Masterprogramm in den USA und im Vereinigten Königreich in aller Regel deutlich höher als in Kontinentaleuropa; die Finanzierung des Unterfangens setzt also regelmäßig einen hohen Organisationsaufwand voraus und kann gelegentlich auch scheitern. Zudem lehren angloamerikanische Hochschulen sozialwissenschaftliche Methoden mit Blick auf ein sich von der deutschen Juristerei teils deutlich unterscheidendes fachliches Selbstverständnis – insbesondere den USA hat man schon ein im Vergleich zur deutschen Situation umgekehrtes (und geradenach destruktives) Verhältnis zwischen sozialwissenschaftlicher und dogmatischer Rechtsforschung attestiert. Dementsprechend kann es auch nicht überraschen, wenn Heimkehrer die in Übersee populären Forschungsrichtungen weiterverfolgen. Zur Heimkehr entscheidet sich im Übrigen nicht jede interdisziplinär geneigte Forscherin, denn die im Ausland vorzufindenden Rahmenbedingungen tragen zuweilen dazu bei, dass der Lebens- und Arbeitsmittelpunkt nach einem Studien- oder Forschungsaufenthalt gänzlich dorthin verlegt wird. Man mag das als ein erfreuliches Zeichen hohen internationalen Ansehens in Deutschland (erst-)ausgebildeter Rechtswissenschaftler:innen sehen – oder aber als Zeugnis eines Standortnachteils.

V. Die nächsten zehn Jahre

Die empirische Rechtsforschung und mit ihr die epistemologische Forschung über Empirie(n) bedürfen einer stärkeren Institutionalisierung innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft. Bereits rechtsempirisch versierte und forschende Wissenschaftler:innen sind gefragt, geeignete Formate zu entwickeln, um die Forschungsrichtung in der Juristenausbildung zu verankern und Rahmenbedingungen für eine höhere „Empiriekompetenz“ unter Jurist:innen einerseits und einer Proliferation rechtsempirischer Forschung anderseits zu schaffen. Neben niedrigschwelligen Einführungsveranstaltungen sollte über eigene Masterstudiengänge und/oder Wahlfächer auf Master- bzw. Promotionsstufe nachgedacht werden, die eine angeleitete, vertiefte Auseinandersetzung mit Empirie und anschließend idealerweise der Einstieg in die eigene empirische Forschungstätigkeit erlauben. Dass nicht jede Fakultät ein solches Angebot erbringen kann und will, versteht sich von selbst, aber zumindest die Herausbildung einiger „Leuchttürme“ wäre wünschenswert. Bleibt interessierten Jurist:innen zum Erlernen des methodischen Rüstzeugs aber nur der hürdenreiche Weg in das Ausland oder ein inländisches Zweit(selbst-)studium, so wird die Disziplin auf absehbare Zeit Heroen und Amateuren vorbehalten bleiben. Man darf auf die nächsten zehn Jahre gespannt sein.

  1. Nußbaum, Die Rechtstatsachenforschung (1914).
  2. Sodass sich eine vielzitierte Prophezeiung von Holmes zu bewahrheiten scheint: Holmes, The Path of the Law, 10 Harv. L. Rev. 457 (469) (1897) („For the rational study of the law, the black-letter man may be the man of the present, but the man of the future is the man of statistics and the master of economics“).
  3. Zu dem Untersuchungsgegenstand meines Dissertationsprojekts, dem gesellschaftsrechtlichen Spruchverfahren, liegt beispielsweise eine Vielzahl von empirischen Untersuchungen aus den letzten zehn Jahren vor, die nur von Juristen verfasst wurden, etwa Puszkajler/Sekera-Terplan, NZG 2015, 1055 (aus der Feder eines Vors. RiOLG a.D. und eines Rechtsanwalts), Loosen, Reformbedarf im Spruchverfahren, 2013 (juristische Promotionsschrift); Weimann, Spruchverfahren nach Squeeze-Out, 2015 (Monographie eines Rechtsanwalts).
  4. Fleischer ZGR 2007, 500 (501 f.).
  5. Engel JZ 2005, 581 (581 ff.).
  6. Eidenmüller JZ 1999, 53 (54 ff.).
  7. Petersen STAAT 2010, 435 (455).
  8. Altwicker recht 2018, 62 (62 f.).
  9. Dabei geht es nicht nur um kritische Anregungen in der Phase des Entstehens einer Arbeit. Ein noch weitestgehend unerfülltes Desiderat für die deutsche rechtsempirische Forschung sind nämlich Replikations- und Metastudien sowie das „Triangulieren“ von Ergebnissen.
  10. Eine stärkere Verwurzelung an juristischen Fakultäten und juristischen Publikationen ist aus einem weiteren Grund wünschenswert: Zuweilen kann nämlich beobachtet werden, dass rechtsempirische Forscherinnen angesichts des noch geringen empirischen Interesses des juristischen Publikums ihre Arbeiten an ein sozialwissenschaftliches Publikum ausrichten (bspw. in „deren“ Publikationsorganen veröffentlichen). Naturgemäß hat ein solches Vorgehen weniger Aussicht darauf, in der normativ-juristischen Diskussion wahrgenommen zu werden, die die Forschungsfrage aufgeworfen hat. Ebenso wenig wünschenswert wäre die Entstehung von „Methoden-Silos“ innerhalb der Rechtswissenschaft.
  11. STAAT 2012, 118 (124 f.).
  12. Vgl. Hamann JA 2017, 759.
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Zitiervorschlag
Jiang, Die nächsten zehn Jahre. Zukunftsperspektiven interdisziplinärer Ausbildung, RECHTS|EMPIRIE, 31.03.2021, DOI: 10.25527/re.2021.04