Die Didaktik der Rechtswissenschaft ist ein stetig wachsendes Forschungsgebiet im Spannungsfeld von allmählicher wissenschaftlicher Durchdringung und teils hitziger Reformdiskussion. Dafür sind belastbare empirische Erkenntnisse besonders wichtig, um beurteilen zu können, welche didaktischen Innovationen hilfreich sind, wo Verbesserungspotentiale bestehen und wie die juristische Ausbildung wirklich „funktioniert“. Ein R|E Online-Symposium widmet sich diesen Fragen und lässt im Verlauf mehrerer Monate Wissenschaftler:innen aller Karrierestufen zu Wort kommen. (Red.)
Didaktik ist gut und wichtig. Die Juristenausbildung in der Universität und im Vorbereitungsdienst braucht dringend ein solides didaktisches Fundament. Ohne wissenschaftlich fundierte didaktische Reflexion kann gute juristische Lehre nicht gelingen. Allgemeingut ist diese Erkenntnis noch nicht, aber es bewegt sich etwas. Der Fortschritt kommt ganz leise, in einer Graswurzelbewegung, der sich immer mehr engagierte Juristen anschließen, Studierende und Doktoranden, wissenschaftlicher Nachwuchs und etablierte Berufsträger.
Das „Bündnis zur Reform der Juristischen Ausbildung e.V.“ legt mit der iur.reform-Studie eine breite, empirisch gestützte Untersuchung zur Notwendigkeit einer Reform der juristischen Ausbildung vor.1 Die Zeitschrift für Didaktik der Rechtswissenschaft (ZDRW) feiert demnächst ihren 10. Geburtstag. Mit „Rechtswissenschaft lehren“ liegt ein schwergewichtiges Handbuch zum Projekt einer rechtswissenschaftlichen Fachdidaktik vor, das offen und überzeugend die Entwicklung einer scholarship of teaching2 postuliert. Die altehrwürdige Zivilrechtslehrervereinigung, stilprägende Fachgesellschaft der Zivilrechtswissenschaft, veranstaltete 2021 eine Tagung zur „Zukunft der zivilrechtswissenschaftlichen Lehre“. Über gute rechtswissenschaftliche Lehre und aussagekräftige und gerechte Prüfung, über Reformbedarf und Reformoptionen, wird zunehmend reflektiert, diskutiert, geschrieben.3
Beflügelt wird die Debatte vor allem durch ganz handgreifliche Nöte der juristischen Praxis. Nach Phasen tatsächlicher oder vermeintlicher Juristenschwemmen fehlt zunehmend qualifizierter juristischer Nachwuchs. Noch wagen die maßgeblichen stakeholder nicht den offenen und konstruktiven Blick auf naheliegende Ursachen: Das ganze System der endlosen und oft freudlosen Juristenausbildung – die universitäre Ausbildung in ihrer derzeitigen Form, das staatliche Prüfungssystem, der Vorbereitungsdienst mit dem Abschluss durch die wenig auf die praktische Ausbildung abgestimmte zweite Staatsprüfung – wird immer weniger als attraktiv und zukunftsweisend wahrgenommen, wirkt auf den potentiellen Nachwuchs möglicherweise sogar abschreckend.
Der Weg zu einer systematischen Professionalisierung der juristischen Lehre und daraus möglicherweise folgend zu einer grundlegenden Reform der Juristenausbildung ist und bleibt freilich mühsam und steinig. Wer im Rechtswissenschaftsbetrieb reüssieren will, tut gut daran, Interesse an juristischer Fachdidaktik nicht zu deutlich zu zeigen und vor allem nicht zu viel Zeit in Lehre und schon gar nicht in juristische Fachdidaktik zu investieren. Didaktik ist etwas für die Fußkranken des Wissenschaftsbetriebs; „wer will denn lehren, wenn man auch forschen kann“, so lautet eine weitverbreitete Grundeinstellung, die von Dekanaten und Rektoraten trotz gegenteiliger Lippenbekenntnisse zur Bedeutung guter Lehre massiv befördert werden. Freisemester und Preise als Belohnung oder als Incentive für besondere wissenschaftliche Leistungen müssten für eine community, die sich nach wie vor auf die Einheit von Forschung und Lehre beruft, ein „no go“ sein, geradezu peinlich oder sogar unanständig.
Das Gegenteil ist der Fall. In Berufungsverfahren gilt gute Lehre nach wie vor als „Sekundärtugend“. Zwar sollten die vorzulegenden Evaluationen nicht gerade Öde und Langeweile indizieren. Für den Erfolg letztlich maßgeblich sind aber Publikationen, Drittmittel und neuerdings „Netzwerke“ (was immer ausufernde Notizbücher und name dropping mit Qualität zu tun haben mögen). Nach wie vor wird dem brillanten Spitzenforscher mit halbwegs tagungstauglicher Rhetorik ohne weiteres auch ausreichend Kompetenz zu akzeptabler Lehre unterstellt, auch jenseits des eigenen Spezialgebiets. Der deutsche Volljurist kann lebenslang (fast) alles, so lautet ein weit verbreitetes Selbstbild, das auch die Arbeit der staatlichen Prüfungsämter prägt. Im Übrigen wird in den Fakultäten kaum über Lehre gesprochen, über die juristische Fachdidaktik schon gar nicht. Die Lehrveranstaltungen der anderen Arkanbereiche. Nachfragen nach einem didaktischen Konzept etwa einer Anfängervorlesung oder eines Examenskurses gelten immer noch fast überall als unkollegial und übergriffig.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass selten ausdrücklich thematisiert wird, was die Studierenden konkret wissen und können müssen, damit sie die sich ihnen stellenden Herausforderungen meistern können: Die erfolgreiche Bewältigung der ersten Prüfung inklusive Schwerpunkt, die ertragreiche Absolvierung des Vorbereitungsdienstes mit zweitem Examen und nicht zuletzt der gelungene Einstieg in die Berufstätigkeit. Aus der Perspektive einer reflektierten Lehre ist dies freilich die alles entscheidende Ausgangsfrage. Ohne klare und nachvollziehbare Bestimmung der Lernziele und ohne transparente Kommunikation dieser Lernziele – und zwar für jede einzelne Veranstaltung – ist sinnvolle und erfolgreiche „Lehre“ nach den Maßstäben einer modernen Didaktik nicht möglich. Diese Lernziele müssen sich klar und nachvollziehbar in der Prüfung widerspiegeln. Die Studierenden müssen wissen, in welche Richtung sie sich entwickeln sollen und was von ihnen erwartet und verlangt wird. Gelernt und geübt wird, was Prüfungsstoff ist. Auch das ist eine didaktische Banalität, ebenso wie die Unterscheidung von Wissen und Kompetenz. Werden Lernziele nicht klar bestimmt und kommuniziert, kommt es zum Phänomen des “hidden curriculum“: Die Studierenden verstehen nicht, worum es eigentlich geht, wo der Fokus ihrer Bemühungen liegen sollte, was eine überzeugende juristische Arbeit ausmacht, wofür es ein Prädikat gibt und was „überhaupt nicht geht“. Diese Unsicherheit verursacht massiven Stress. Als Konsequenz wird Lebenszeit vergeudet, Motivation zerstört, Begeisterung für das Fach erstickt.
Die längst überfällige Frage nach den konkreten Lernzielen der juristischen Ausbildung verlagert den Fokus vom Lehrenden auf die Studierenden. Kennzeichnend für die moderne Hochschuldidaktik ist „the shift from teaching to learning“. So postuliert die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), dass Lehrende einen Perspektivenwechsel vom Lehrprozess hin zu den Lernprozessen der Studierenden vollziehen sollen; Lehre soll nicht mehr nur als Darstellung der Inhalte eines Fachgebietes verstanden werden, sondern das Erlernen und Verstehen wissenschaftlicher Konzepte und Methoden sowie den Erwerb damit verbundener fachbezogener und überfachlicher Kompetenzen fördern und unterstützen.4 Lehre soll sich also auf den Studierenden konzentrieren, auf seinen Lernprozess. Im Mittelpunkt der Lehre soll nicht der Professor stehen, sondern der Studierende, seine Bedürfnisse, seine Fortschritte, sein Erfolg.
Angesichts dieser auf der Hand liegenden Zusammenhänge müsste man sich bei der Vorbereitung einer Lehrveranstaltung im Vorfeld aller fachlichen Überlegungen erst einmal mit dem Empfängerhorizont der konkreten Hörer befassen. Erforderlich ist eine fundierte Befassung mit der Frage, auf welchem konkreten Weg Wissen und Erfahrungsschatz aus dem Kopf des Dozenten in die Köpfe (und die Herzen) der Studierenden gelangen und auf welche Weise den Studierenden vermittelt werden könnte, dass es nach den JAG entgegen weit verbreiteten Vorstellungen nicht nur auf Kenntnisse und Wissen, sondern vor allem auf Systemverständnis, Rechtsanwendung und Methodenkompetenz ankommt.5
Wer sich ernsthaft auf diese Fragen einlässt, kommt an einer Befassung mit juristischer Fachdidaktik, und zwar mit empirisch informierter Didaktik, nicht vorbei: Wer sitzt da im Hörsaal vor mir, so müsste eine der Ausgangsfragen lauten. Was weiß man über die konkrete Studierendenpopulation und ihre üblicherweise sehr unterschiedlichen Bildungshintergründe, was weiß man über ihre subjektive Studienmotivation, was war prägend für die Studienentscheidung, welche Rolle spielen Rechtsstaat und Gerechtigkeit in ihrem Studienerlebnis? Eine Fülle von Folgefragen schließen sich an: Wie gelingt eine Balance zwischen Wissens-, Verständnis- und Kompetenzvermittlung im Hinblick auf das jeweilige Fach und den bereits erzielten Studienfortschritt? Wie kann man die unbedingt notwendige Kompetenz zu Analyse und Kontextualisierung von Primärquellen vermitteln? Wie kann die methodensichere Einordnung von Präjudizien eingeübt werden? Wir könnte ein anspruchsvolles, forderndes, aber nicht überforderndes Lese- und Übungsprogramm aussehen? Wie viel Visualisierung ist nötig, wieviel Infotainment? Wie ist eine Verzahnung mit anderen Lehrveranstaltungen zu gewährleisten? Was sind Lernerfolge, wie lässt sich eine wirklich tragfähige Überprüfung von Lernerfolgen organisieren? Welche Prüfungsformate sind sinnvoll und welche nicht? Welche Optionen hat die Massenuniversität im Hinblick auf das Ziel, die Studierenden bei der Ausschöpfung des eigenen individuellen Potenzials zu unterstützen? Wie lässt sich verhindern, dass eine voreilige Fokussierung auf die tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Anforderungen der Staatsprüfung zur Verengung des Studiums auf einen falsch verstandenen Gutachtenstil führt? Wie lässt sich die überbordende Stofffülle so bändigen, dass die Vermittlung von Verständnis und Kompetenz nicht leidet? Das vorliegende Projekt »Rechtsdidaktik – Was wissen wir darüber; was wirkt?« zeigt Wege und Antworten und wird die Diskussion entscheidend bereichern.
Zum Schluss: Es geht um den Rechtsstaat. Der Rechtsstaat braucht einen gut ausgebildeten und motivierten juristischen Nachwuchs, der nicht nur das geltende Recht beherrscht, sondern auch zukunftsfähig ausgebildet ist. Zur Bewältigung der Herausforderungen von Digitalisierung, KI, Nachhaltigkeit, demokratischer Resilienz, reicht die in zahllosen Klausuren dokumentierte Fähigkeit zur Navigation in Uraltproblemen des EBV nicht aus. Daher hat die juristische community ein vitales Interesse daran , dass endlich über eine Reform der Juristenausbildung nachgedacht wird, die diesen Namen verdient und die Zukunftsfragen der juristischen Berufe mutig adressiert,6 anstatt sich in technische Details zu verlieren und nur das Schwert der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Blick zu haben.
Dabei müsste endlich auch der Anschluss an die juristische Fachdidaktik gesucht und gefunden werden, die in den Fakultäten bisher kaum und in den Landesjustizministerien bisher überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird. Es müsste über Wissenschaftlichkeit und Reintellektualisierung diskutiert werden und über Internationalisierung. Es müsste der Blick in die eigene Geschichte gewagt werden. Der bisher weitgehend ignorierte § 5a DRiG, der anspruchsvolle didaktische Fragen aufwirft, könnte Anlass sein, endlich über die wirklich relevanten Fragen der Juristenausbildung nachzudenken.7
- Siehe www.iurreform.de/utopie_juristische_ausbildung.
- Krüper (Hrsg.), Rechtswissenschaft lehren – Handbuch der juristischen Fachdidaktik, 2022.
- Dauner-Lieb, Zum Verjährungsbeginn bei unsicherer und zweifelhafter Rechtslage – Präjudizien in Lehre und Prüfung, FS Henssler, 2023, im Erscheinen; dies., Zum handwerklichen und fachlichen Fundament der Baurechtspraxis – Kompetenz und Verständnis als Ziele der juristischen Ausbildung, FS Langen, 2023, im Erscheinen.
- So www.hrk-modus.de/ressourcen/glossar/shift-from-teaching-to-learning-323 (zuletzt abgerufen am 27.4.2023).
- Dazu ausführlich Dauner-Lieb, FS Langen (Fn. 3).
- Eindringlich Harbarth, Juristenausbildung, FAZ 26.1.2022.
- Siehe dazu etwa Safferling/Dauner-Lieb, NJW 2023, 1038.