Die Didaktik der Rechtswissenschaft ist ein stetig wachsendes Forschungsgebiet im Spannungsfeld von allmählicher wissenschaftlicher Durchdringung und teils hitziger Reformdiskussion. Dafür sind belastbare empirische Erkenntnisse besonders wichtig, um beurteilen zu können, welche didaktischen Innovationen hilfreich sind, wo Verbesserungspotentiale bestehen und wie die juristische Ausbildung wirklich „funktioniert“. Ein R|E Online-Symposium widmet sich diesen Fragen und lässt im Verlauf mehrerer Monate Wissenschaftler:innen aller Karrierestufen zu Wort kommen. (Red.)
In einer in der ZDRW erschienenen Untersuchung haben Charlotte Heppner, Nora Wienfort und Sophia Härtel, Mitglieder des Arbeitsstabs Ausbildung und Beruf des Deutschen Juristinnenbundes, Diskriminierungsgefahren in den mündlichen Prüfungen der juristischen Staatsexamina identifiziert und konkrete Forderungen dazu formuliert. Im Folgenden werden wir diese Untersuchung zusammenfassend wiedergeben.
Im „Spannungsfeld von allmählicher wissenschaftlicher Durchdringung und teils hitziger Reformdiskussion“, wie es im Beitragsaufruf zu diesem Online-Symposium formuliert war, sind auch wir der Überzeugung, dass belastbare Daten und aus diesen gewonnene Erkenntnisse besonders wichtig sind, um didaktische, ausbildungs- und prüfungsbezogene Verbesserungspotentiale zu identifizieren. Daher analysiert dieser Beitrag die Ausbildungsgesetze und -verordnungen der Länder und Antworten auf vorgefertigte Fragenkataloge, die uns die Justizprüfungsämter zum Thema Prävention von und zum Schutz vor Diskriminierungen in den mündlichen Prüfungen gegeben haben. Unser Befund: In jedem Problemfeld, das wir als diskriminierungsanfällig identifizieren, besteht für die Länder und ihre Behörden bereits heute ausreichend Handlungsspielraum, um Diskriminierungsgefahren in der Zukunft zu verringern oder Diskriminierungen sogar zu vermeiden. Eine gerechtere Prüfungspraxis ist unmittelbar erreichbar – ob und wann sie Realität wird, hängt vom Willen der Verantwortlichen ab.
A. Hintergrund und Gegenstand der Untersuchung
Frauen und Menschen mit zugeschriebenem Migrationshintergrund schneiden in beiden juristischen Staatsprüfungen unter vergleichbaren Voraussetzungen schlechter ab als Männer ohne zugeschriebenen Migrationshintergrund. Dies belegte eine aufsehenerregende Studie aus dem Jahr 2017. Die konkreten Ursachen sind noch nicht hinreichend aufgeklärt.1 Die Notenunterschiede sind jedoch im mündlichen Teil der Staatsprüfungen wesentlich stärker ausgeprägt als im schriftlichen (siehe Studie von Glöckner et. al.). Anders als in schriftlichen Prüfungen lassen sich in der mündlichen Prüfung typische Diskriminierungsmerkmale wie etwa Hautfarbe, Geschlecht und Name nicht durch eine anonymisierende Kennziffer verbergen. Das lässt vermuten, dass dieses Phänomen auf – freilich überwiegend unbewusste – strukturell bedingte Diskriminierungen zurückzuführen ist.2
Diskriminierende Staatsprüfungen sollten aus mehreren Gründen beunruhigen: Erstens befinden sich Kandidat*innen in Prüfungen in besonderem Maße in einer grundrechtssensiblen Situation. Aus dem Schutz ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), dem Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) leiten sich die Grundpflichten der Fairness und Sachlichkeit ab, denen Staatsprüfende unterliegen.3
Zweitens konterkarieren Diskriminierungen in Prüfungen den Prüfungszweck. Ziel von Prüfungen ist es, Leistungen abzufragen und zu bewerten.4 Die Note soll in der Arbeitswelt als eine Art „staatliches Gütesiegel“ dienen und andere Personen, z.B. potentielle Arbeitgeber*innen, über die Leistungsfähigkeit der bewerteten Person informieren.5 Zwingende Voraussetzung für die Erreichung des Prüfungsziels ist vor diesem Hintergrund, dass die Kandidat*innen tatsächlich nur aufgrund ihrer Leistung bewertet werden. Aus einer diskriminierenden Prüfung gewonnene Noten haben weniger Aussagekraft. Da Noten vor allem im Vergleich zueinander – also relativ – verstanden und eingeordnet werden, wirkt sich die fehlende Aussagekraft einzelner Noten wiederum negativ auf die Aussagekraft aller Noten aus.
Drittens ist die Staatsexamensnote von zentraler Bedeutung für das spätere Berufsleben und etwaige Karrieremöglichkeiten.6 Der Ausgang der mündlichen Prüfung macht einen erheblichen Teil der Gesamtnote des Staatsexamens aus. In der staatlichen Pflichtfachprüfung z.B. 40 Prozent in Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt, 37 Prozent in Berlin und Brandenburg, 25 Prozent in Bayern und Hamburg – in der Zweiten juristischen Prüfung z.B. in Hessen und Niedersachsen 40 Prozent, in Thüringen 35 Prozent, in Baden-Württemberg 30 Prozent (siehe die Ausbildungsstatistik des Bundesamtes für Justiz, Stand: März 2020). Diese entscheidet immer noch maßgeblich über den Zugang zu bestimmten Berufsfeldern. Diskriminierungen in der Juristischen Staatsprüfung sind also auch deshalb so problematisch, weil sie sich nicht in der Prüfung selbst erschöpfen, sondern über das gesamte Berufsleben bis hin zur Altersvorsorge fortwirken.
Menschen können nicht nur aufgrund eines Diskriminierungsmerkmals, sondern auch mehrdimensional, d.h. intersektional, benachteiligt werden. Dies ist der Fall, wenn in einer Person verschiedene diskriminierungsrelevante Zuschreibungen zusammentreffen und spezifisch zusammenwirken.7 Ausgangspunkt und Fokus unserer Untersuchung ist die geschlechtsspezifische Diskriminierung. Unsere Forderungen zielen aber ebenso auf den Abbau von Diskriminierungen aufgrund anderer Merkmale, auf die sich die hier gewonnenen Erkenntnisse größtenteils übertragen lassen dürften.
Antworten auf unsere bundesweit an alle Prüfungsämter verschickten Fragenkataloge erhielten wir, wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit, aus allen Prüfungsbezirken bis auf Hamburg bzw. aus Bremen nur für die Erste Staatsprüfung. Unsere Umfrage wurde von Januar bis Juli 2020 durchgeführt. Entsprechende spätere Änderungen konnten nicht berücksichtigt werden.
Der Fragenkatalog zielte dabei auf Themenschwerpunkte, die wir zuvor als Stellschrauben für den Schutz vor Diskriminierungen in den mündlichen Prüfungen identifiziert hatten: die Besetzung von Prüfungskommissionen, die Vornotenkenntnis der Prüfenden, der Ablauf von Prüfungsvorgesprächen, die Bewertung durch die Prüfenden und die Art und Weise der Prüfungsdokumentation, das Vorhandensein von Mediations- und Beschwerdemöglichkeiten sowie etwaige Schulungen für Prüfende. Auf diese Weise konnten wir herausarbeiten, inwieweit derzeit Regeln bestehen, die Diskriminierungen in den mündlichen Prüfungen vorbeugen, und was die Prüfungsämter bereits unternehmen, um Diskriminierungen zu verhindern.
B. Stellschrauben für eine gerechtere Prüfungspraxis
Die sechs von uns gerade genannten Handlungsfelder bieten für die Behörden erheblichen Spielraum, um mündliche Prüfungen gerechter und insbesondere weniger diskriminierungsanfällig zu gestalten. Wir fordern deshalb unter anderem: eine veränderte Besetzung der Prüfungskommissionen (I.), die Abschaffung der Vornotenkenntnis der Prüfenden (II.) sowie genauere und verbesserte Beschwerde- und Kontrollmöglichkeiten (III.).8
I. Geschlechtergerechte Besetzung der Prüfungskommissionen
Neben den empirischen Befunden zur Benotungsungerechtigkeit9 sprechen auch allgemeine diskriminierungskritische Erwägungen für eine paritätische10 Besetzung der Prüfungskommissionen: Rein männlich besetzte Gremien können patriarchale, geschlechterstereotype Denkmuster verfestigen. Für junge Juristinnen und Personen mit zugeschriebenem Migrationshintergrund fehlt es auf der Prüfungsbank an Vorbildern.11 Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, dass auf einer Tagung der Konferenz der Präsident*innen der Prüfungsämter aller Bundesländer im Jahre 2018 in Potsdam Einigkeit darüber bestand, dass ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Prüfenden anzustreben ist, wie die Justizprüfungsämter Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg berichten.
Die Prüfungsrealität ist davon jedoch weit entfernt. Unsere Untersuchung hat ergeben, dass im mündlichen Teil der juristischen Staatsexamina überwiegend Männer prüfen. Das Geschlechterungleichgewicht zeigt sich bereits im Kreis der potentiellen Prüfenden („Prüfer-Pool“). In den meisten Ländern werden die Mitglieder der Prüfungskommissionen aus den neben- und hauptberuflichen Mitgliedern der Justizprüfungsämter rekrutiert (siehe z.B. § 11 Abs. 1 JAG Niedersachsen oder § 2 Abs. 1 JAG Sachsen-Anhalt). Dies spiegelt sich in der tatsächlichen Besetzung der regelmäßig aus drei Personen bestehenden Prüfungskommissionen (auch „Prüfungsausschüsse“). In ihren Antworten haben sich alle Prüfungsämter zum Geschlechterungleichgewicht zulasten von Prüferinnen in ihrer Prüfungspraxis geäußert. Danach beträgt der Anteil weiblicher Prüferinnen im „Prüfer-Pool“ in Sachsen-Anhalt lediglich 30 Prozent. Schleswig-Holstein antwortete: „Für das erste juristische Staatsexamen haben wir (Stand 27. Juni 2018) 132 Prüfer und Prüferinnen, von denen 39 weiblich und 93 männlich sind“. Aus Baden-Württemberg kam die Antwort: „177 weibliche und 583 männliche Prüfer bestellt“ (Stand März 2020 für beide Staatsexamina). Aus dem Saarland ließ man verlauten: „Der Frauenanteil unter den ca. 129 Mitgliedern [des Landesjustizprüfungsamtes], die mündliche Prüfungen durchführen, beträgt […] ca. 25 [Anm.: Gemeint ist wohl die absolute Zahl und nicht Prozent].“ Ohne genaue Zahlen zu nennen, haben andere Prüfungsämter diesen Befund mit den folgenden Formulierungen bestätigt: „deutlich mehr Prüfer“ (Niedersachsen), „Anzahl der tätigen Prüfer übersteigt die Anzahl der einsetzbaren Prüferinnen bei Weitem” (Rheinland-Pfalz), „die Gesamtzahl der Frauen, die zu Prüferinnen bestellt sind, [reicht] nicht aus, um in allen Prüfungskommissionen eine gemischte Besetzung zu gewährleisten“ (Bayern), es gebe „mehr Prüfer als Prüferinnen” (Bremen), „dem Justizprüfungsamt stehen schlicht zu wenige Prüferinnen zur Verfügung” (Thüringen) und „eine gemischte Besetzung der Prüfungskommissionen […] kann nicht immer gewährleistet werden” (Mecklenburg-Vorpommern).
Ein wenig hoffnungsfroher stimmen die Informationen aus dem Prüfungsbezirk Berlin/Brandenburg, wo im März 2020 annähernd 50 Prozent der Prüfungskommissionen auch tatsächlich mit einer Frau besetzt waren, und aus Nordrhein-Westfalen, wo dieser Anteil von ca. 30 bis 50 Prozent (2014 bis 2016) auf mittlerweile 60 bis 80 Prozent gesteigert werden konnte.12 Auch Bayern konnte nach eigenen Angaben die Gesamtzahl der Prüferinnen im Vergleich zu vor zehn Jahren etwa verdoppeln.13
Fast alle Prüfungsämter „bemühen“ sich um gemischtgeschlechtlich besetzte Prüfungskommissionen. Wörtlich äußern sich so die Bundesländer Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg, Bayern und Bremen. In Hessen wird „intensiv versucht“, in Niedersachsen handelt es sich um ein „wichtiges Anliegen“, in Sachsen-Anhalt, Thüringen und dem Saarland ist man „bestrebt“, „wird angestrebt“ und für „sicherlich erstrebenswert gehalten“ und in Schleswig-Holstein wird darauf „geachtet“. Diese Bemühungen erschöpfen sich nach Angaben der Prüfungsämter jedoch im Anwerben von Frauen durch gezieltes Ansprechen potentieller Prüferinnen (so z.B. in Sachsen-Anhalt, Hessen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen (auch bezüglich Prüfenden mit Migrationshintergrund), Niedersachsen und Thüringen) und werden ansonsten nicht näher spezifiziert. Dies trifft auf Sachsen-Anhalt, Hessen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen (auch bezüglich Prüfenden mit Migrationshintergrund), Niedersachsen und Thüringen zu.
Im Prüfungsbezirk Berlin/Brandenburg verfasste der Justizsenator des Landes Berlin zusammen mit dem Landesverband Berlin des Deutschen Juristinnenbundes im August 2018 einen Aufruf, um mehr Prüferinnen zu gewinnen. Eine tatsächliche entsprechende Regelung besteht allerdings allein in Schleswig-Holstein, wo gem. § 7 Abs. 3 S. 4 JAVO Schleswig-Holstein bei der Berufung der Prüfenden anzustreben ist, dass Frauen und Männer zu gleichen Anteilen vertreten sind. Zu diesem Zweck sollen verstärkt Frauen als Mitglieder des Justizprüfungsamtes gewonnen werden. In Schleswig-Holstein ist das Bemühen um mehr Prüferinnen in einer Verordnung verankert. Da die Vorschrift jedoch nur für das Erste Staatsexamen gilt, sich nicht auf die Besetzung der Kommissionen selbst bezieht, keine Zielvorgabe setzt und außerdem nur als Soll-Vorschrift ausgestaltet ist, ist sie in ihrer Wirkung sehr beschränkt.
Eine Frauenquote allein wird freilich nicht ausreichen, um dem Problem des Geschlechterungleichgewichts langfristig zu begegnen. Vielmehr birgt sie das Risiko, den aktuell wenigen prüfungsbereiten Frauen die Last der Erfüllung der Quote alleine aufzubürden, indem sie beispielsweise mehrmals hintereinander prüfen müssten.14 Angesprochen wird das Problem vom Landesjustizprüfungsamt Thüringen: die „wenigen Prüferinnen können nicht über Gebühr beansprucht werden, da sonst das Risiko besteht, dass auch diese in Zukunft nicht mehr zur Verfügung stehen“. Solche Effekte könnten dann sogar bestehende Ungleichheitsstrukturen weiter vertiefen.
Deswegen müssen sich die Rahmenbedingungen der Prüfungstätigkeit ändern. Das betrifft unter anderem die Vergütung, die geeignet sein muss, den erheblichen Zeitaufwand, den die Vorbereitung und Durchführung einer qualitativ hochwertigen Prüfung mit sich bringt, angemessen zu kompensieren. Bereits die Aufwandsentschädigung variiert je nach Bundesland zwischen 12 und 51 Euro pro Kandidat*in.15 Darüber hinaus sollten Prüfende aus dem öffentlichen Dienst für eine mündliche Prüfung (für einen ausreichend langen Zeitraum) von ihrer Haupttätigkeit freigestellt werden. Solange sich an der finanziellen und zeitlichen Kompensation für die Prüfenden nichts ändert, kann insbesondere Frauen keine mangelnde Prüfungsbereitschaft vorgeworfen werden. Es verwundert wenig, dass sie sich angesichts des auch in juristischen Berufen bestehenden Gender Pay Gap eine schlecht bezahlte Prüfungstätigkeit weniger leisten können als ihre männlichen Kollegen. Genauso einsichtig ist, dass Frauen weniger zusätzliche Zeit für eine Prüfungstätigkeit aufbringen können, wenn sie noch immer den weit überwiegenden Teil der Care-Arbeit leisten. Mit einem angemessenen finanziellen und zeitlichen Ausgleich brächten die Prüfungsämter der anspruchsvollen und verantwortungsvollen Aufgabe des Prüfens außerdem die geschuldete Wertschätzung entgegen. Dies wäre der Qualität der mündlichen Prüfungen insgesamt zuträglich und dem allgemeinen Mangel an Prüfenden unabhängig von ihrem Geschlecht entgegenwirken. Den Mangel an Prüfenden beklagen ausdrücklich die Justizprüfungsämter Baden-Württemberg und Saarland.
II. Ausschluss der Vornotenkenntnis
In allen Bundesländern sind der Prüfungskommission während der mündlichen Prüfung die Bewertungen der schriftlichen Leistungen der Kandidat*innen bekannt.16 Teilweise argumentieren die Prüfungsämter, dies sei eine zwingende Folge aus § 5d Abs. 4 DRiG, wonach die Prüfungskommission aufgrund ihres Gesamteindrucks von der rechnerisch ermittelten Gesamtnote abweichen kann.17 Darüber hinaus wird für die Vornotenkenntnis häufig vorgebracht, diese ermögliche, das Niveau der Prüfung an die Leistungsfähigkeit der jeweiligen Kandidat*innen anzupassen. Dies gilt besonders in Bundesländern, in denen die Prüfungsgruppen abhängig von den Vornoten zusammengesetzt werden. Das ist immerhin im Saarland, Sachsen, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt nach eigenen Angaben der Fall. Auch in Mecklenburg-Vorpommern spielen die Noten eine Rolle bei der Zusammensetzung der Prüfungsgruppen, hier sollen sie aber möglichst gemischt zusammengesetzt werden. Keine Rolle bei der Zusammensetzung der Prüfungsgruppen spielen die Vornoten nach eigenen Angaben in Thüringen, Bayern, Bremen, Rheinland-Pfalz, Hessen, Berlin/Brandenburg und Schleswig-Holstein. Die Vornotenkenntnis verstärkt die Folgen von Diskriminierungen in mündlichen Prüfungen jedoch erheblich und ist daher abzuschaffen.18
Durch die Vornotenkenntnis kommt der Bewertung der mündlichen gegenüber der schriftlichen Leistung eine Relevanz zu, die die jeweils gesetzlich festgesetzte Prozentzahl übersteigt. Denn Prüfende bewerten die mündliche Prüfung regelmäßig nicht als solche, sondern mit Blick auf die damit erzielte Gesamtnote – also in Abhängigkeit von den Vornoten.19 Dies scheint zunächst nicht problematisch, da Kandidat*innen von der Vornotenkenntnis häufig profitieren.20 Entscheidend ist jedoch, dass nicht alle Kandidat*innen die gleichen Chancen haben, von der Vornotenkenntnis zu profitieren, weil die mündliche Prüfung wegen der direkten Interaktion deutlich diskriminierungsanfälliger ist als die – erheblich umfangreicheren, von mehreren unterschiedlichen Prüfenden bewerteten – schriftlichen Prüfungen. Es besteht die Gefahr, dass von einem unconscious bias beeinflusste Bewertungen der mündlichen Prüfung sich wegen der Vornotenkenntnis nicht nur auf die mündliche Note, sondern durch den häufig genutzten Spielraum der Prüfer:innen angesichts der Gesamtnotenbildung damit indirekt auch auf die Gesamtnote der Staatsprüfung auswirken. Angesichts dessen wäre es in Kauf zu nehmen, wenn Gesamtnoten ohne Vornotenkenntnis der Prüfenden absolut schlechter ausfallen würden. Denn relativ, also im Vergleich zu den anderen Kandidat*innen, wären die Noten aussagekräftiger und gerechter.
Gegen eine Abschaffung der Vornotenkenntnis kann die Befürchtung hervorgebracht werden, dass dadurch ein Ankereffekt verloren gehen könnte, wodurch potentiell von Diskriminierung betroffene Kandidat*innen noch verstärkt vergleichsweise schlechter abschneiden könnten.
III. Implementierung eines Beschwerde- und Kontrollsystems
Gegen die Bewertung in der mündlichen Prüfung können sich Kandidat*innen im Widerspruchs- und Klageverfahren zur Wehr setzen. Dies ist jedoch mit hohen Hürden verbunden. Sowohl Widerspruch als auch Klage bergen ein finanzielles Risiko. Ein besonderes Hindernis besteht zudem darin, dass die betroffene Person die Begründung der Bewertungsentscheidung benötigt, um ihr substantiierte Einwendungen entgegenbringen und sich damit erfolgreich gegen sie wehren zu können. Diese Begründung liegt in der Prüfungspraxis in den meisten Fällen nicht vor. Um die Bewertungsentscheidung überhaupt einer Überprüfung zugänglich zu machen, müssen die Prüfenden dazu verpflichtet werden, ihre Bewertungsentscheidung zu begründen. Manche Ausbildungsordnungen sehen bereits eine kurze mündliche Begründung vor. Dies trifft auf Thüringen (§ 26 Abs. 3 Satz 2 JAPO), Bremen (§ 23 Abs. 3 JAPO), Baden-Württemberg (§ 19 Abs. 4 JAPrO) und Mecklenburg-Vorpommern (§ 23 Abs. 1 Satz 1 JAPO) zu. Diese Normen können den anderen Bundesländern als Vorbild dienen.
Die Prüfungsämter sollten zudem weitere Beschwerdemöglichkeiten sowie der Prüfung nachgelagerte Mediationsangebote einrichten, denn das Widerspruchsverfahren zielt in erster Linie auf die Notenverbesserung ab. Diskriminierungsfälle sind indes häufig komplexer gelagert und schwieriger greifbar. Von Diskriminierung Betroffenen muss die Möglichkeit gegeben werden, sich schriftlich oder mündlich bei einer unabhängigen Stelle zu beschweren.
Vorbilder für eine solche Stelle hält die Praxis zu Genüge bereit. Verwiesen sei hier auf die Ombudsstelle nach § 14 LADG Berlin, an die sich schon jetzt auch im Rahmen der Prüfung Diskriminierte wenden können. Eine andere Möglichkeit ist das Verfahren nach § 12 BayJAPO, nach dem der Prüfungsausschuss auf Antrag von Prüfungsteilnehmenden oder von Amts wegen die Prüfung in Teilen wiederholen kann, wenn sich herausstellt, dass das Prüfungsverfahren mit Mängeln behaftet war, die die Chancengleichheit erheblich verletzt haben. Auch der Einigungsausschuss nach § 43 JAG Hessen könnte geeignet sein, auf Fälle von Diskriminierungen zu reagieren – (bisher) nach dem Wortlaut der Norm allerdings nur im Ausbildungsverhältnis und nicht im Prüfungsverhältnis. Daneben könnten sich die Justizprüfungsämter auch am Instrument des Beschwerderechts nach § 13 AGG orientieren. Die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Universitäten und Fakultäten nehmen in vielen Fällen schon heute eine Mediationsfunktion ein. Regelmäßige Prüfungsbesuche durch andere Prüfende sowie durch unabhängige Mitarbeitende der Prüfungsämter könnten zusätzlich langfristig eine bessere Vergleichbarkeit von Prüfungen fördern.
C. Fazit
Unseren Anfragen begegneten die Justizministerien bzw. Justizprüfungsämter fast durchweg mit Verständnis und Wohlwollen. Auch die Studie von Glöckner/Towfigh/Traxler war erfreulicherweise vielen Personen, mit denen wir Kontakt hatten, bekannt. Der Exekutive ist offenbar bewusst, dass die mündliche Prüfung in der Ersten und Zweiten juristischen Staatsprüfung diskriminierungsanfällig ist und Handlungsbedarf besteht.
Diese Erkenntnis spiegelt sich jedoch nicht in der Regelungswirklichkeit wider. Wir konnten für alle von uns als diskriminierungsanfällig identifizierten Handlungsfelder nachweisen, dass es an einheitlichen gesetzlichen oder behördlichen Rahmenbedingungen mangelt. Zulässig wäre eine weitergehende Regulierung schon jetzt. Denn die Verordnungsgeber der Länder können sich auf weitgehende Verordnungsermächtigungen stützen: Die Ausbildungsgesetze der Länder ermächtigen regelmäßig zum Erlass von Vorschriften „über das Verfahren der staatlichen Pflichtfachprüfung / der zweiten juristischen Staatsprüfung“21 und präzisieren dies unterschiedlich. Genutzt wird dieser Spielraum indes bisher nicht. Stattdessen wird häufig auf den Grundsatz der Unabhängigkeit der Prüfenden verwiesen.22 Unsere Forderungen nach diskriminierungsfreier Prüfungsgestaltung widersprechen dem Unabhängigkeitsgrundsatz jedoch nicht, sondern sind gerade seine konsequente Fortführung. Denn dieser wurde von Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgericht nicht etwa als eine Art „Recht der Prüfenden auf unbeschränkte Selbstentfaltung“ konzipiert, sondern zum Schutz der Grundrechte der Geprüften aus Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG.23 Weite Teile der mündlichen Prüfungen sind bereits jetzt stark reguliert – nur nicht in der hier geforderten diskriminierungssensiblen Art und Weise.
In Anbetracht weitreichender Konsequenzen für die Betroffenen muss jede Art ungerechtfertigter Benachteiligung und Privilegierung im Rahmen der mündlichen Prüfung vermieden werden. Dies ist jedoch nur mittels verbindlicher Regelungen möglich. Wie diese aussehen könnten, haben wir in der vorliegenden Untersuchung dargelegt. Jetzt ist es Aufgabe der Länder und ihrer Behörden, entsprechend zu handeln.
Die Autorinnen sprechen für den Arbeitsstab Ausbildung und Beruf des djb.
- Vgl. Wienfort, „Ergebnisunterschiede sind Ausdruck eines fundamentalen gesellschaftlichen Problems“ – Interview mit Prof. Dr. Emanuel Towfigh, in: djbZ 2020, S. 4.
- Siehe zum Begriff der strukturellen Diskriminierung Grünberger/Mangold et al., Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, S. 36.
- Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl., München 2018, Rn. 328 m.w.N.; s. auch Kramer/Hauser, Die Korrektur juristischer Arbeiten – ist sie heute schon auf Examensniveau? Ergebnisse eines „Feldversuches“, in: Brockmann/Pilniok (Hrsg.), Prüfen in der Rechtswissenschaft, Baden-Baden 2018, S. 144 (145 f. m.w.N.).
- Siehe zu den Gütekriterien einer Prüfung und ihrer Umsetzung in der Rechtswissenschaft ausführlich Reis, Prüfen aus Sicht der Hochschuldidaktik. Ein Blick auf das rechtswissenschaftliche Studium, in: Brockmann/Pilniok (Hrsg.), Prüfen in der Rechtswissenschaft, Baden-Baden 2018, S. 29 (32 ff.).
- Schultz/Böning et al., De jure und de facto: Professorinnen in der Rechtswissenschaft – Geschlecht und Wissenschaftskarriere im Recht, Baden-Baden 2018, S. 214.
- Glöckner/Towfigh et al. in: ZDRW 2018, S. 115; Schultz/Böning et al., De jure und de facto: Professorinnen in der Rechtswissenschaft – Geschlecht und Wissenschaftskarriere im Recht, Baden-Baden 2018, S. 214, 344.
- Grünberger/Mangold et al., Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, S. 20.
- Zu unseren weiteren Forderungen (verpflichtende Schulungen, genauere Vorgaben zur Bewertung der Leistung und die Abschaffung von Vorgesprächen) siehe die vollständige, anfangs erwähnte in der ZDRW erschienene Untersuchung.
- Dazu auch Lembke/Valentiner, Diskriminierung und Antidiskriminierung in der juristischen Ausbildung, in: Bretthauer/Henrich et al. (Hrsg.), Wandlungen im Öffentlichen Recht, Baden-Baden 2020, S. 279 (293).
- „Paritätisch“ besetzt werden können dreiköpfige Prüfungskommissionen selbstverständlich nicht, teilweise bestehende vierköpfige Prüfungskommissionen indes schon (vgl. § 13 Abs. 3 Satz 1 JAG Niedersachsen, § 3 Abs. 1 Satz 1 JAPrVO Sachsen-Anhalt, § 40 Abs. 2 JAPO Rheinland-Pfalz, § 3 Abs. 2 Satz 1 ThürJAPO.). Bei dreiköpfigen Prüfungskommissionen erscheint die Besetzung mit mindestens einer Frau erforderlich.
- Zu fehlenden Vorbildern aufgrund eines Diversitätsdefizits in den Rechtswissenschaften Grünberger/Mangold et al., Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, S. 44.
- Vgl. auch Glöckner/Towfigh et al., in: ZDRW 2018, S. 115 (138)
- Vgl. zum Ganzen auch die Erhebung des Deutschen Anwaltvereins, präsentiert beim „Virtuellen Deutschen Anwaltstag” am 17.06.2020, nach der im Saarland und Schleswig-Holstein der Anteil gemischter Prüfungskommissionen bei 23-30 Prozent liege, in Bayern und Bremen bei 54-79 Prozent und der Anteil weiblicher Prüferinnen in Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Hessen 20-30 Prozent betrage. Selbstverständlich können diese Zahlen in Anbetracht der hohen Anzahl stattfindender Prüfungen immer nur eine Momentaufnahme darstellen. Da wir unsere Untersuchung vor Beginn der Covid-19-Pandemie begonnen haben, konnten etwaige Auswirkungen der Krise nicht berücksichtigt werden. Evidenzen zur Doppelbelastung aus Care- und Erwerbsarbeit von Frauen während der Krise sprechen freilich gegen eine Steigerung des Frauenanteils in den Prüfungskommissionen, siehe z.B. Bünning/Hipp et al., Erwerbsarbeit in Zeiten von Corona, April 2020, http://hdl.handle.net/10419/216101 (10.9.2023), die als Indikatoren die geringere bewältigte Arbeitsstundenzahl (S. 6) und die signifikant zurückgegangene Arbeitszufriedenheit von Müttern während der Pandemie (S. 26) herausarbeiten.
- Siehe dazu Lembke/Valentiner, Diskriminierung und Antidiskriminierung in der juristischen Ausbildung, in: Bretthauer/Henrich et al. (Hrsg.), Wandlungen im Öffentlichen Recht, Baden-Baden 2020, S. 279 (305).
- Erhebung des Deutschen Anwaltvereins, präsentiert beim „Virtuellen Deutschen Anwaltstag” am 17.06.2020; Antwort Schleswig-Holstein: 25 € pro Prüfling zzgl. Reisekosten; Anlage zu § 4 Abs. 6 JAPO Sachsen: 23,50 bzw. 33 € pro Prüfling.
- Antwort Thüringen, Hessen, Saarland, Sachsen, Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin/Brandenburg, Schleswig-Holstein. Auch in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen ist das der Fall.
- So ausdrücklich die Antworten aus Bayern und Thüringen; aus Hessen heißt es, die Vornoten seien bei den Hebungsentscheidungen nach § 19 Abs. 3 und § 51 Abs. 3 JAG Hessen zu berücksichtigen.
- S. auch Gather, „Die juristische Prüfung ist eine Blackbox“ – Interview mit Jun.-Prof. Dr. Judith Brockmann, djbZ 2020, S. 2 (3); Wienfort, „Ergebnisunterschiede sind Ausdruck eines fundamentalen gesellschaftlichen Problems“ – Interview mit Prof. Dr. Emanuel Towfigh, djbZ 2020, S. 4 (6).
- Dylla-Krebs, Warum es gut und richtig ist, die Vornoten zu kennen – Ein Plädoyer dafür, den Prüferinnen und Prüfern in den juristischen Staatsprüfungen weiterhin vor der mündlichen Prüfung die Klausurnoten mitzuteilen, in: ZDRW 2018, S. 143 (144): Es sei gerade Aufgabe der Prüfenden in der mündlichen Prüfung, ein „komplexes wertendes Urteil“ zu treffen, das auf dem „vollständigen Sachverhalt“, also auch den schriftlichen Vornoten, beruhe.
- Dylla-Krebs, Vornoten, in: ZDRW 2018, S. 143 (144).
- So pauschal § 57 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 4 JAG Hessen, ähnlich § 9 Abs. 1 Nr. 2 JAG Rheinland-Pfalz.
- Ausdrücklich Antworten aus Mecklenburg-Vorpommern, Hessen, Berlin/Brandenburg, Thüringen, Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz.
- Vgl. auch Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl., München 2018, Rn. 320 f.