Die Didaktik der Rechtswissenschaft ist ein stetig wachsendes Forschungsgebiet im Spannungsfeld von allmählicher wissenschaftlicher Durchdringung und teils hitziger Reformdiskussion. Dafür sind belastbare empirische Erkenntnisse besonders wichtig, um beurteilen zu können, welche didaktischen Innovationen hilfreich sind, wo Verbesserungspotentiale bestehen und wie die juristische Ausbildung wirklich „funktioniert“. Ein R|E Online-Symposium widmet sich diesen Fragen und lässt im Verlauf mehrerer Monate Wissenschaftler:innen aller Karrierestufen zu Wort kommen. (Red.)
Wenn man darüber nachdenkt, ob und wie man Rechtsdidaktik evaluieren könnte, dann könnte man auf verschiedene Ideen kommen.
- Es könnte der Lernstand einer Gruppe vor dem Einsatz einer didaktischen Methode ermittelt werden und der Lernstand derselben Gruppe nach dem Einsatz der didaktischen Methode (Prä-Post-Vergleich). Wir wissen dann, ob es einen Lerneffekt gegeben hat.
- Es könnten auch die Lernstände von zwei verschiedenen Gruppen ermittelt werden und dann identische Lerninhalte mit zwei verschiedenen didaktischen Methoden vermittelt und die Lernstände der beiden Gruppen erneut ermittelt werden (Postvergleich). Wir wissen dann, ob eine der didaktischen Methoden zu einem größeren Lernerfolg geführt hat.
- Oder aber es werden zwei Gruppen jeweils vor und nach den zwei unterschiedlichen didaktischen Vorgehensweisen geprüft (Veränderungsvergleich) und wir können daraus ermitteln, ob der Lernzuwachs durch die jeweilige Methode bei einer der beiden Gruppen größer ist bzw. wie stark er von der anderen Gruppe abweicht.
Auch denkbar ist eine Metaanalyse von Studien im Sinne der Nummern 1) bis 3), wenn die Studien ein und dieselbe didaktische Methode untersuchen. Für all diese Evaluationsmöglichkeiten braucht es jedenfalls Rahmenbedingungen, die zu einer zuverlässigen und repräsentativen Aussage über die didaktische Methode führen. Da mag der/die einzelne Jurist*in geneigt sein, diese Aufgabe fremd zu vergeben.
Gibt es andere Evaluationswege für didaktische Methoden? Wege, die aber über eine schlichte Abfrage von „Was war Ihrer Meinung nach besonders hilfreich für Ihren Lernerfolg in der Veranstaltung?“ hinausgehen?
Im Rahmen des Zertifikatsprogramms „Professionelle Lehrkompetenz für die Hochschule“ an der Universität Bielefeld ist unter anderem ein eigenes Lehrprojekt samt Evaluation zu entwickeln, durchzuführen und zu dokumentieren. Das Ziel meines Lehrprojekts im Sommersemester 2020
Juristische Gutachtentechnik: Live-Korrektur von Studierendentexten auf einer etherpad-Plattform. Größerer Nutzen bei weniger Aufwand
war die Untersuchung des Nutzen-/Aufwand-Verhältnisses einer Live-Korrektur von Studierendentexten auf einer digitalen Plattform. Der Einsatz der digitalen Live-Korrektur erfolgte unter Anwendung des Constructive-Alignment-Konzeptes. Die Evaluation der didaktischen Methode erfolgte in Anlehnung an die Bielefelder Lernzielorientierte Evaluation (BiLOE). Um die Ergebnisse des Nutzen-/Aufwand-Verhältnisses etwas repräsentativer zu produzieren, ist die Live-Korrektur nicht fortlaufend in einer eigenen Veranstaltung durchgeführt worden. Stattdessen fand die digitale Live-Korrektur in sechs Einzelterminen innerhalb von semesterbegleitenden Tutorien (hier: Grundrechte) anderer Lehrender im Teamteaching mit mir statt. Vorteil der Beteiligung anderer Lehrender war darüber hinaus, dass fremde Einschätzungen zur Beurteilung des Nutzen-/Aufwand-Verhältnisses zusätzlich evaluiert werden konnten.
Nach dem Konzept des Constructive Alignment werden bereits in der Lehrveranstaltungsplanung die Lehr-/Lernziele der Veranstaltung, die Prüfungsform und die Lehr-/Lernmethode zur Erreichung der prüfungsrelevanten Lehr-/Lernziele aufeinander abgestimmt. Bezogen auf mein Lehrprojekt, sollte den Studierenden vermitteln werden, abstrakte Lerninhalte selbstständig und schriftlich mit Hilfe der juristischen Gutachtentechnik auf den konkreten Einzelfall zu beziehen. Die von mir formulierten Lehr-/Lernziele waren (1) die Verständnisentwicklung für die Bedeutung von Rechtsnormen samt dahinterstehender Wertung für die juristische Argumentation und (2) die Fähigkeitsentwicklung einer eigenen schriftlichen Argumentation auf Basis von Rechtsnormen. Die Prüfungsform der schriftlichen Gutachtentechnik in der Grundrechtsklausur galt als unveränderbare Prüfungsanforderung. Die Lehr-/Lernaktivität sollte im Sinne des Constructive Alignment weniger auf Erläuterung durch die Lehrenden, sondern verstärkt auf eigener gedanklicher Auseinandersetzung und eigenem tatsächlichen Schreiben basieren.
Nun besteht das grundsätzliche Problem, dass die zur Verfügung stehende Zeit für die Lehrveranstaltungsvorbereitungen und die Betreuung der Studierenden wohl immer geringer ist, als es wünschenswert wäre. Um den Zeitraum der Veranstaltung selbst nutzbarer zu machen, haben die Studierenden die Schreibaufgabe online auf der Internetplattform etherpad.wikimedia.org durchgeführt. Noch während die Ausformulierung stattfand, konnte ebenfalls auf der Plattform Feedback schriftlich formuliert werden (individuell) und beobachtete Formulierungsschwierigkeiten (allgemein) im Plenum thematisiert werden. Es bestand damit die Möglichkeit neue Einsichten direkt in den Schreibvorgang einfließen zu lassen. Ziel des Methodeneinsatzes war, neben der Lernzielerreichung der Studierenden, auch eine Zeitersparnis. Weder die Schreibzeit der Studierenden, noch die Korrekturzeit der Lehrenden musste außerhalb der Lehrveranstaltungszeit aufgebracht werden. Ob sich durch die Methode der Live-Korrektur diese Win-win-Situation neben dem tatsächlichen Erreichen der Lernziele erzeugen ließe, galt es nach der Veranstaltung zu evaluieren.
Die Evaluation erfolgte in Anlehnung an die BiLOE. Die BiLOE ermittelt, welche Lernziele die Studierenden (nicht: die Lehrenden) verfolgen und ob und inwieweit die Studierenden die Lehr-/Lernziele der Veranstaltung bzw. der Lehrenden teilen und erreichen. Zusätzlich wird abgefragt welche Methoden für das Erreichen der Lernziele subjektiv für wie hilfreich erachtet werden. Für die Abfrage der Methoden werden alle im Semesterverlauf auf das jeweilige Lernziel ausgerichteten Methoden konkret benannt und aufgelistet. Mit den Evaluationsergebnissen lässt sich die eigene Lehrveranstaltungsplanung im Nachgang sehr gut weiterentwickeln. Die Evaluation meines Lehrprojekts fand aus dreierlei Hinsicht lediglich in Anlehnung an die BiLOE statt. Erstens sind die Lernziele der Studierenden selbst nicht in die Evaluation eingeflossen, da das Interesse lediglich der Erreichung der beiden im Rahmen des Lehrprojekt selbst gesteckten Lernziele galt. Zweitens bezog sich die Abfrage auch ausschließlich auf die erwählte Methode der Live-Korrektur und nicht auf mehrere Methoden im Laufe einer längeren/wiederkehrenden Veranstaltung. Drittens ist auch eine Evaluation der Lehrendeneinschätzung über das Nutzen-/Aufwand-Verhältnis der digitalen Live-Korrektur durchgeführt worden, damit auch der Vorbereitungsaufwand dieser Methode in das Ergebnis einfließen kann.
Aussagen der Studierenden aus der Evaluation sind: Die etherpad-Schreibübung hat zur Erreichung der Lernziele ((1) Verständnis für die Bedeutung von Rechtsnormen samt dahinterstehender Wertungen für die juristische Argumentation und (2) Fähigkeit zur eigenen schriftliche Argumentation auf Basis von Rechtsnormen) beigetragen. Außerdem war der Nutzen der anschließenden Besprechung auf Basis der Schreibübung im Vergleich zur herkömmlichen didaktischen Vorgehensweise höher bis deutlich höher. Bei 50 % der Befragten wirkte sich die Übung weder demotivierend noch motivierend aus, bei 40 % motivierend. 57,6 % der Befragten wünschen sich eine Einbindung der Übung in jeder vierten bis dritten Veranstaltung, 35,6 % in ca. jeder zweiten Veranstaltung.
Aussagen der Lehrenden aus der Evaluation sind: Vorbereitungs- und Durchführungsaufwand der Lehre sind durch die etherpad-Schreibaufgabe geringfügig erhöht. Die Studierendenaktivität in der Schreibübung stimmt voll und ganz mit der Studierendenaktivität in der Semesterabschlussprüfung überein. Die Schreibübung ist motivierend und die zukünftige Einbindung in die Lehre ist außerordentlich sinnvoll (Mittelwert 8,8 auf einer Skala von 1-10 (10 = außerordentlich sinnvoll)).
Mein Ergebnis für die Weiterentwicklung meiner Lehre ist, dass die Nutzung des Live-Formats viel positives Potential mit sich bringt. Ausschlaggebend für den Erfolg zur Erreichung der Lernziele sind dann der Anlass und die konkrete Ausgestaltung der Schreibübung. Der Start mit diesem Tool und den Schreibübungen verursacht zwar zu Beginn etwas Mehraufwand. Aber sobald sich die Übungen (zumindest in der Struktur) wiederholen, dürfte sich der Aufwand nicht von der herkömmlichen didaktischen Herangehensweise unterscheiden. Bei guter Aufgabenstellung, Begleitung und Nachbesprechung ist der Nutzen sowohl hinsichtlich der Lernerfolge der Studierenden, aber auch hinsichtlich der zeitlichen Ressourcen deutlich erkennbar. Weder Studierende noch Lehrende werden außerhalb der Kurszeit mit zeitlichem Mehraufwand belastet. Die etherpad-Schreibübung samt Live-Korrektur würde ich zukünftig in ca. einem Drittel der Lehrveranstaltungen einplanen und für jeden Einsatz individuell die Lernziele und die Aufgabenstellung aufeinander abstimmen. Zusätzlich austesten werde ich das Angebot von zwei bis drei Schreibübungen mit unterschiedlichem Schwierigkeitslevel, sodass Studierende eine Übung passend zum eigenen Leistungsstand wählen können.
Die vollständige Dokumentation meines Lehrprojekts (7 Seiten) umfasst die Aufgabenstellung für die etherpad-Schreibübung (Anlage 1), die Original-Evaluationsergebnisse der Lehrendensicht (Anlage 2) und die Studierendensicht (Anlage 3). Besonders hingewiesen sei auf die freien Antworten der Lehrenden und Studierenden in den jeweiligen Original-Evaluationsergebnissen.