Die Didaktik der Rechtswissenschaft ist ein stetig wachsendes Forschungsgebiet im Spannungsfeld von allmählicher wissenschaftlicher Durchdringung und teils hitziger Reformdiskussion. Dafür sind belastbare empirische Erkenntnisse besonders wichtig, um beurteilen zu können, welche didaktischen Innovationen hilfreich sind, wo Verbesserungspotentiale bestehen und wie die juristische Ausbildung wirklich „funktioniert“. Ein R|E Online-Symposium widmet sich diesen Fragen und lässt im Verlauf mehrerer Monate Wissenschaftler:innen aller Karrierestufen zu Wort kommen. (Red.)
1. Einleitung
In die festgefahrene Debatte um die Reform der juristischen Ausbildung scheint Bewegung zu kommen. Studien, wie die umfangreiche Befragung von Jurist:innen durch die Initiative iur.reform,1 bilden eine wichtige empirische Grundlage für die Diskussion um die juristische Ausbildungsreform. Auch wenn die Notwendigkeit einer Reform immer mehr Unterstützung findet, sind Umfang und Umsetzung nach wie vor umstritten. Ein Streitpunkt ist die Zulassung von Handkommentaren als Hilfsmittel in den Klausuren der ersten staatlichen Pflichtfachprüfung, wie sie bereits im zweiten Staatsexamen gängige Praxis ist. In der Studie von iur.reform stand eine absolute Mehrheit von 59,8 % der Befragten einer Nutzung von Handkommentaren zustimmend gegenüber, während 23,9 % der Befragten dies ablehnten. Auffällig ist, dass sich die Zustimmungswerte zwischen den befragten Gruppen stark unterscheiden: Während 62,2 % der Befragten in Ausbildung und 53,9 % der befragten Praktiker:innen die Verwendung von Handkommentaren in Examensklausuren befürworten, gilt dies nur für 37,3 % der befragten Ausbildenden (Professor:innen und JPA-Mitarbeitende). Diese unterschiedliche Einstellung mag zumindest zum Teil auch aus einer unterschiedlichen Erwartungshaltung an den Einsatz von Kommentierungen resultieren. Befürworter:innen argumentieren, die Nutzung von Handkommentaren verhindere stumpfes Auswendiglernen und biete die Möglichkeit, in Prüfungsleistungen verstärkt Verständnis und Transferleistungen zu überprüfen. Skeptiker:innen befürchten, die Verwendung von Kommentierungen führe dazu, dass die Aneignung des notwendigen Wissens verhindert und durch ein schnelles Nachschlagen ersetzt würde.2
Auch – und dieser Aspekt soll in diesem Beitrag im Vordergrund stehen – sei nicht auszuschließen, dass die Zulassung von Kommentaren zu einer besseren Bewertung von Examensklausuren führen und so die erste juristische Staatsprüfung entwerten oder zumindest die Vergleichbarkeit der Examensergebnisse erschweren könnte. Bestehende Unterschiede in der Notenvergabepraxis der einzelnen Bundesländer haben bereits dazu geführt, dass juristische Staatsexamina in bestimmten Bundesländern als besonders einfach bzw. besonders schwierig wahrgenommen werden.3 Das Problem dürfte sich weiter verschärfen, wenn einzelne Bundesländer Kommentare als Hilfsmittel im ersten Staatsexamen zulassen sollten. Ernsthafte Bedenken bezüglich der Chancengleichheit und Vergleichbarkeit würden sich ergeben, wenn sich nachweisen ließe, dass Bearbeitungen mit Kommentar als Hilfsmittel im direkten Vergleich zu Bearbeitungen ohne Kommentar in der Bewertung signifikant besser abschneiden würden. Derartige Bewertungsunterschiede sind auch deshalb problematisch, weil aufgrund der Organisation der Justizprüfungsämter in Klausurverbünden einzelne Klausuren in mehreren Bundesländern gleichzeitig laufen. Ein möglicher Lösungsansatz, um einer unterschiedlichen Notenvergabe entgegenzuwirken, könnte darin bestehen, die zugelassenen Hilfsmittel in den Bewertungsmaßstäben zu berücksichtigen und die Korrekturanforderungen entsprechend anzupassen. Um die tatsächlichen Auswirkungen eines Kommentareinsatzes auf Klausurbearbeitungen und deren Bewertung näher zu untersuchen, wurde im Sommersemester 2023 unter den Studierenden des Examensklausurenkurses der Universität Leipzig ein Experiment durchgeführt.4
2. Aufbau und Ablauf des Experiments
a) Fragestellung und Untersuchungsgegenstand
Primäres Ziel des Experiments war die Beantwortung der Frage, welchen Einfluss die Zulassung von Gesetzeskommentierungen auf die Bewertung von Klausuren hat. Anhand eines direkten Vergleichs sollte ermittelt werden, ob die Bewertungen von Bearbeitungen mit Kommentar als Hilfsmittel trotz angepasster Korrekturanforderungen besser ausfallen als Bearbeitungen ohne Kommentar. Ergänzend wurden die teilnehmenden Studierenden und Korrigierenden zu ihren subjektiven Eindrücken von den Auswirkungen auf die Bearbeitungen befragt.
b) Ablauf
Die Studierenden konnten auf freiwilliger Basis an dem Experiment teilnehmen und wurden zufällig in zwei Vergleichsgruppen mit jeweils 23 Personen eingeteilt. Beiden Vergleichsgruppen wurde eine Probeklausur auf Examensniveau zur Bearbeitung vorgelegt. Während eine Vergleichsgruppe die Klausur nur mit den zugelassenen Gesetzestexten lösen sollte, wurde der anderen Vergleichsgruppe eine Kurzkommentierung (Fischer, StGB) zur Verfügung gestellt, die bereits in der Zweiten Juristischen Staatsprüfung als Hilfsmittel zugelassen ist. Bei der Einteilung in die Vergleichsgruppen kam den Studierenden ein Vetorecht zu, falls sie keinesfalls mithilfe des Kommentars schreiben wollten.
Den Korrigierenden wurde eine umfassende, als Mustergutachten ausformulierte Lösung sowie eine Bewertungstabelle zur Verfügung gestellt, in der die Klausurschwerpunkte mit ihrer jeweiligen Gewichtung dargestellt wurden. Zusätzlich wurden besondere Korrekturhinweise erstellt, um die Unterschiede in den allgemeinen Korrekturanforderungen zwischen Bearbeitungen mit und ohne Kommentierungen zu verdeutlichen. Insbesondere Inhalte, die der Kommentierung entnommen und „einfach abgeschrieben“ werden konnten, sollten weniger stark gewichtet werden. Das betraf etwa die Wiedergabe von Definitionen, Konkurrenzverhältnissen und Prüfungsschemata sowie die Verortung konkreter Probleme bei einzelnen Tatbestandsmerkmalen. Auch die Darstellung einzelner Ansichten im Rahmen von Meinungsstreitigkeiten wurde durch die Kommentarnutzung erheblich erleichtert, was in der Korrektur ebenfalls zu berücksichtigen war. Zusätzlich zu diesen allgemeinen Korrekturhinweisen wurden in das Mustergutachten Anmerkungen zu einzelnen Problemen eingearbeitet, um die Anforderungen der Aufgabenstellenden an der jeweiligen Stelle kenntlich zu machen. Dabei wurde ebenfalls berücksichtigt, dass von Bearbeitenden ohne Kommentierungen keine weitreichende Detailkenntnis bezüglich vertretener Positionen in Literatur und Rechtsprechung erwartet werden konnten. Die umfangreichen Korrekturhinweise dienten dem Zweck, einheitliche Korrekturmaßstäbe zu gewährleisten, aber gleichzeitig Raum für individuelle Bewertungsspielräume zu lassen. Im Anschluss sollten durch eine vergleichende Analyse der Klausurkorrekturen Rückschlüsse auf den Einfluss einer Kommentarnutzung auf Qualität und Benotung einer Klausurbearbeitung gezogen werden. Kontextualisiert wurden diese Ergebnisse durch eine Befragung der teilnehmenden Studierenden und Korrigierenden.
3. Ergebnisse
a) Bewertung der Klausurbearbeitungen
In der Vergleichsgruppe „mit Kommentar“ betrug der Notendurchschnitt: 5,13 Punkte. Von den 23 Bearbeitungen fielen sechs durch, während eine Bearbeitung den zweistelligen Bereich der Notenskala erreichte (11 Punkte). In der Vergleichsgruppe „ohne Kommentar“ betrug der Notendurchschnitt 5,39 Punkte. Fünf Bearbeitungen fielen durch. Auch in dieser Vergleichsgruppe konnte eine Bearbeitung eine zweistellige Punktzahl erzielen (10 Punkte). Der Notendurchschnitt beider Vergleichsgruppen weicht damit nicht signifikant voneinander ab. Auch der Anteil an nicht bestandenen bzw. überdurchschnittlichen Bearbeitungen ist sehr ähnlich. In der Bewertung ließen sich damit keine gravierenden Unterschiede zwischen den Vergleichsgruppen feststellen. Die Befürchtung, dass Bearbeitungen mit Kommentaren als Hilfsmittel im Durchschnitt besser ausfallen als Bearbeitungen ohne Kommentar, konnte damit nicht bestätigt werden. Tatsächlich schnitten die Bearbeitungen mit Kommentar mit der geringfügigen Differenz von 0,26 Punkten zwischen beiden Durchschnittswerten sogar etwas schlechter ab als die Vergleichsgruppe ohne Kommentar.
b) Befragung der Teilnehmenden
Durch die Befragung der Studierenden sollte der Einfluss von Kommentierungen aus Sicht der Studierenden und Korrigierenden erhellt werden. 75 % der befragten Korrigierenden gaben an, dass sie bezüglich der Qualität der Bearbeitungen keine nennenswerten Unterschiede zwischen Bearbeitungen mit und ohne Kommentierung feststellen konnten. Als mögliche Gründe wurden insbesondere Zeitmangel und fehlende Übung im Umgang mit Kommentaren in Klausursituationen genannt. Die primären Fehlerquellen sahen die Korrigierenden in den Grundlagen der Klausurbearbeitung, auf die eine Kommentierung keinen direkten Einfluss hat. Unter anderem wurden die Bildung von Tatkomplexen, die Schwerpunktsetzung und das Zeitmanagement als Problemquellen identifiziert. Die befragten Studierenden hingegen bewerteten den Einfluss der Kommentare positiver. In der Selbstwahrnehmung gaben 63 % der Befragten an, der Kommentar habe ihre Leistung positiv beeinflusst, 16 % glaubten, der Kommentar habe ihre Leistung nicht beeinflusst und weitere 16 % gaben an, der Kommentar habe sie geringfügig negativ beeinflusst. 79 % hielten den Kommentar bei der Lösung der konkreten Klausur für hilfreich, lediglich 11 % empfanden den Kommentar als hinderlich.
4. Einordnung der Ergebnisse
Eine vorläufige Einordnung der Ergebnisse macht zwei Dinge deutlich. Erstens konnte die Befürchtung, der Einsatz von Kommentierungen würde zu einer unangemessenen Anhebung des Notenspiegels führen, nicht bestätigt werden. Zumindest in der hier verglichenen Stichprobe führte der Einsatz von Kommentierungen – unter Berücksichtigung der zugelassenen Hilfsmittel im Erwartungshorizont der Korrigierenden – nicht zur Vergabe besserer Noten. Zweitens sind Kommentare keine Wunderwaffe. Angesichts des nicht unerheblichen Umfangs von Examensklausuren und der ohnehin knapp kalkulierten Bearbeitungszeit bleibt wenig Zeit, um komplexe Probleme im Kommentar nachzulesen. Eine sinnvolle Nutzung setzt also nicht nur eine gewisse Übung im Umgang mit Kommentaren in Klausursituationen, sondern auch ein grundlegendes Systemverständnis voraus. Im Idealfall sollten die Studierenden spätestens mit Beginn der Examensvorbereitung im Umgang mit Kommentaren ausgebildet werden, um das Hilfsmittel in der Klausursituation effizient nutzen zu können. Dann können Kommentare möglicherweise das Auswendiglernen von Definitionen und Schemata ersetzen, nicht aber das weiterhin notwendige Wissen und Systemverständnis. Diesbezüglich wären weitere Untersuchungen wünschenswert, wie sich das Hilfsmittel auf die Bearbeitungsqualität auswirkt, wenn die Studierenden im Umgang mit Kommentaren in der Klausursituation geschult sind.
- https://iurreform.de/#studie (zuletzt abgerufen am: 08.11.2023).
- https://iurreform.de/reformoptionen/#elementor-toc__heading-anchor-7 m.w.N. (zuletzt abgerufen am: 30.11.2023).
- S. etwa https://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/jura-staatsexamen-bessere-noten-im-norden-und-westen-a-1166036.html (zuletzt abgerufen am: 30.11.2023).
- Hier soll lediglich ein grober Überblick über Aufbau und Erkenntnisse des Experiments gegeben werden.