Die Didaktik der Rechtswissenschaft ist ein stetig wachsendes Forschungsgebiet im Spannungsfeld von allmählicher wissenschaftlicher Durchdringung und teils hitziger Reformdiskussion. Dafür sind belastbare empirische Erkenntnisse besonders wichtig, um beurteilen zu können, welche didaktischen Innovationen hilfreich sind, wo Verbesserungspotentiale bestehen und wie die juristische Ausbildung wirklich „funktioniert“. Ein R|E Online-Symposium widmet sich diesen Fragen und lässt im Verlauf mehrerer Monate Wissenschaftler:innen aller Karrierestufen zu Wort kommen. (Red.)
Einleitung
Studierenden wird immer wieder empfohlen, sie mögen Fälle lösen. In der Fallübung soll zum einen abstraktes Wissens auf einen konkreten Sachverhalt angewendet werden. Zum anderen soll die gutachterliche und methodische Darstellung erlernt oder verbessert werden.
Dazu greifen Studierende v.a. auf Fälle mit Lösungen zurück, die sie entweder von ihrer Bildungseinrichtung gestellt bekommen haben, auf Fallbücher oder Fälle in Ausbildungszeitschriften.
Schon ein oberflächlicher Blick in verschiedene Falllösungen zeigt, dass diese sehr unterschiedlich aufbereitet sind. Einige sind vollständig ausformuliert, viele sogar im Gutachtenstil, andere sind in knappen oder ausführlichen Stichpunkten gehalten. Teilweise gibt es knappe oder umfangreiche Vertiefungen und Fußnoten sowie Erwartungshorizonte und Angaben zum Schwierigkeitsgrad in unterschiedlichem Umfang. Auch die Bezeichnung der Falllösungen differiert. Während Jurist*innen in anderen Bereichen mit klaren Definitionen arbeiten, sind die Bezeichnungen für die Falllösungen nicht konsistent und zum Teil auch nicht nachvollziehbar. Unabhängig davon, ob es sich um Stichpunkte, Sätze oder gar ein ausformuliertes Gutachten handelt, werden Falllösungen mit „Lösungshinweise“, „-vorschlag“, „-skizze“, „-gliederung“, „Musterlösung“, „Korrekturhinweise“ oder „Lösung“ überschrieben. Hervorzuheben ist, dass auch ausformulierte Musterlösungen häufig als „Lösungshinweise“ oder „-skizze“ bezeichnet werden.
Das wirft die Frage auf, ob es überhaupt ein einheitliches Verständnis von Zweck und Gestaltung von Lösungsskizzen gibt. Und weitergehend, ob Falllösungen ausgehend von ihrem Zweck gestaltet sind.
Wegen der hohen Bedeutung von Fällen und Falllösungen für Studierende habe ich im Handbuch „Rechtswissenschaft Lehren“ (Hrsg. Krüper, 2022) den Beitrag „Die Didaktik von Lösungsskizze und Musterlösung“ veröffentlicht und einen genauen Blick auf die Falllösung als Lern- und Übungsmaterial geworfen.
Ziel des Beitrags war es, aufzuzeigen, welche unterschiedlichen Arten von Falllösungen an Studierende herausgegeben werden, die Zwecke von Falllösungen herauszuarbeiten und zum Diskurs anzuregen, ob die typischerweise gewählten Darstellungsformen in didaktischer Hinsicht geeignet sind, diese Zwecke zu erreichen.
Teil des Beitrags war eine empirische Untersuchung von 101 Examensübungsklausuren aus Examensvorbereitungskursen verschiedener juristischer Fakultäten. Diesen empirischen Teil möchte ich hier in Auszügen vorstellen und ergänzend berichten, welche Erfahrungen ich bei der Materialsammlung gemacht habe.
I. Analyse von 101 Examensübungsklausuren aus den Jahren 2016-2018
1. Material
Insgesamt hatte ich mehr als 230 Lösungen von 23 juristischen Fakultäten zur Verfügung, von denen ich 101 ausgewertet habe. Nicht berücksichtigt habe ich Lösungen, die mir ausschließlich als Power Point Präsentation zur Verfügung standen. Außerdem habe ich grds. von jedem*r Ersteller*in nur eine Klausur einbezogen, um möglichst viele unterschiedliche Arten von Lösungen zu untersuchen. War die Darstellung sehr unterschiedlich, habe ich ausnahmsweise zwei Klausuren pro Ersteller*in verwendet. Insgesamt habe ich 101 Lösungen von 93 Ersteller*innen berücksichtigt.
2. Kriterien bei allen Lösungen
Ich habe bei allen Lösungen formale (a) und inhaltliche Kriterien (b) untersucht, die ich hier zum großen Teil vorstellen möchte.
a) Formalien
Formal habe ich zwei Kriterien betrachtet, die sofort auffallen: ob die Lösungen ausformuliert waren und ob Fußnoten verwendet wurden. Vollständig ausformuliert, also durchgängig in Sätzen geschrieben, waren 62 Lösungen. Davon waren 49 als Gutachten formuliert, d.h. sie waren im Gutachtenstil verfasst, Probleme wurden diskutiert und gelöst. In 85 Lösungen waren Fußnoten vorhanden.
b) Inhaltliche Aspekte
Bei den inhaltlichen Aspekten habe ich untersucht, ob alternative Lösungswege (aa) und Aussagen zum Anforderungsprofil (bb) enthalten waren. Diese Punkte habe ich ausgewählt, weil sie sowohl für Korrektor*innen als auch für Studierende bei der Überprüfung eine wichtige Rolle spielen. Aufgrund der hohen Bedeutung von Argumentation in Klausuren habe ich betrachtet, wie die Streitdarstellung (cc) erfolgte und ob sich außerhalb der Streitdarstellung auf Autoritäten berufen wurde (dd).
aa) Alternative Lösungswege
93 der 101 Falllösungen enthielten Hinweise zu alternativen Lösungswegen. Im Detail unterschieden sich die Lösungen jedoch stark im Umfang der Ausführungen.
Für die folgende Auswertung ist zu beachten, dass ich eine Falllösung schon dann in einer Kategorie berücksichtigte habe, wenn sie das Merkmal an zumindest einer Stelle erfüllt. Eine Falllösung kann daher in unterschiedlichen Kategorien berücksichtigt worden sein.
69 Falllösungen enthielten zumindest an einer Stelle den Hinweis „a.A. vertretbar“ (oder vergleichbare Formulierungen) ohne Folgeerwägungen. In 83 Lösungen fanden sich zumindest an einer Stelle auch Folgeerwägungen. Unter Folgeerwägung habe ich alle Ausführungen zu den Auswirkungen einer abweichenden Auffassung für die Lösung erfasst.
Auch bei den Folgeerwägungen unterschied sich der Detailgrad.
In 46 Lösungen waren nur knappe Folgeerwägungen dargestellt, d.h. es wurde nur grob angedeutet, welchen Einfluss eine alternative Lösung auf die weitere Prüfung hat oder ein Begründungsansatz kurz angerissen. Folgeerwägungen fanden sich 39 Fällen. Dort wurde z.B. auch darauf eingegangen, welche Argumente bei der alternativen Lösung eine Rolle spielen können. Echte alternative Prüfungen kamen nur fünfmal vor. Elfmal erfolgten fehlerantizipierende Hinweise für Falschabbieger.
bb) Aussagen zum Anforderungsprofil
72 der 101 Falllösungen enthielten explizite oder implizite Angaben zu einem „Erwartungshorizont“ im weiten Sinn. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass fast 30% der Lösungen keinerlei Angaben zum Erwartungshorizont enthielten.
Unter „explizit“ habe ich alles erfasst, was Aussagen zu Bewertung, Fehlergewichtung und konkreten Erwartungen enthält und dabei kein alternativer Lösungsvorschlag ist. Auch die Angabe von Schwerpunkten insgesamt vorab oder am Ende der Lösung ist eine Aussage zu Erwartungen. 61 Falllösungen enthielten jedenfalls zum Teil explizite Erwartungen. In nur 13 dieser 61 Lösungen war vorab oder am Ende ein (knapper) Erwartungshorizont formuliert oder zumindest die Schwerpunkte der Klausur angegeben.
„Implizit“ erfasst alles, was Rückschlüsse auf Erwartungen zulässt, wie Hinweise auf einzelne Schwerpunkte in der Lösung, Schwierigkeit von Klausur oder Problem und auch Bewertungsbögen, sofern diese auch den Studierenden zugänglich gemacht wurden. Insgesamt enthielten 37 Lösungen implizite Angaben zu Erwartungen.
Auch hier konnte ein Lösungsvorschlag unter mehrere Kategorien fallen.
cc) Streitdarstellung
Als Streitdarstellung erfasst habe ich die Behandlung eines abstrakten Rechtsproblems, zu dem unterschiedliche Auffassungen dargestellt wurden oder pro und contra argumentiert wurde. Wurden Probleme nur rudimentär angedeutet oder nur in eine Richtung argumentiert, liegt keine Streitdarstellung in dem Sinne vor. Das gilt auch dann, wenn Ausführungen zu anderen Meinungen oder Lösungsansätzen in ergänzenden Hinweisen vorhanden waren. Subsumtionsprobleme sind nicht erfasst. Berücksichtigt habe ich hier 88 von 101 Falllösungen. In den übrigen 13 wurde kein Streit im eben definierten Sinn dargestellt.
In 81 Falllösungen wurden Streits jedenfalls an manchen Stellen autoritär dargestellt, d.h. mit einer Zuordnung der Lösungsrichtung und / oder der Argumente zu „BGH“ / “herrschende Meinung“ oder einem Aufspalten in Ansichten („eine Ansicht“; „vertreten wird“). Nur in 7 Lösungen ist keine autoritäre Streitdarstellung zu finden. Dort wurde ausschließlich argumentativ (Aufzeigen von Möglichkeiten, pro und contra) oder / und methodisch (ernsthafter Bezug zu Auslegungscanones oder Anbindung an methodische Figuren wie etwa die Analogie) gearbeitet.
Da nur wenige Lösungen Streits rein methodisch darstellten, habe ich zusätzlich erfasst, ob jedenfalls methodische Elemente enthalten waren. Methodische Elemente habe ich daher weit verstanden und angenommen, wenn die Argumente einen Bezug zu den Auslegungscanones aufwiesen oder methodische Figuren angewendet wurden, z.B. die Analogie. Nicht als methodisches Element gewertet habe ich, wenn ohne nähere Erklärung ein methodischer Begriff im Stil eines Schlagwortes genannt oder behauptet (so z.B. “wird analog angewendet“). In 48 Lösungen waren methodische Elemente enthalten.
Zusätzlich habe ich erfasst, ob der Streit auch argumentativ entschieden wurde. Das habe ich angenommen, wenn sich die Entscheidung aus den Argumenten ergibt, etwa wenn zu einem Ergebnis hingeleitet wird oder nach Auseinandersetzung mit den Argumenten eine nachvollziehbare Entscheidung folgt. In 35 Lösungen wurde der Streit nicht argumentativ entschieden. Das bedeutet, nach Darstellung der Argumente wurde ohne weitere Auseinandersetzung einer Ansicht gefolgt oder es wurden lediglich Lösungsansätze vorgestellt und das Ergebnis (zum Beispiel mit dem Hinweis, dass beides vertretbar ist) offengelassen.
dd) Berufung auf Autoritäten außerhalb der Streitdarstellung
Zusätzlich habe ich untersucht, ob eine Berufung auf Autoritäten (mit und ohne Argumente) auch außerhalb von Streitdarstellungen erfolgte. Dabei ist bemerkenswert, dass dies in 76 von 101 Klausuren der Fall war, wobei in 38 Fällen die Berufung auf Autoritäten ohne Argumente erfolgte.
3. Ausformulierte Musterlösung
Zusätzlich habe ich die 49 Lösungen genauer untersucht, die in Form eines Gutachtens ausformuliert waren. Diese Art der Darstellung suggeriert den Studierenden, dass genau so ihre Klausurleistung aussehen könnte. Daher ist meines Erachtens eine vertiefte Analyse der Darstellung angezeigt. Untersucht habe ich auch hier die Art der Streitdarstellung (a) und die Berufung auf Autoritäten außerhalb von Streitständen (b). Da eine Besonderheit juristischer Falllösungen der Gutachtenstil ist, habe ich mich zusätzlich mit zwei Aspekten des Gutachtenstils auseinandergesetzt (c). Schließlich habe ich den Umfang der Lösungen betrachtet (d), um zu hinterfragen, ob ausformulierte Musterlösungen realistische Beispiele für studentische Fallbearbeitungen sein können.
a) Streitdarstellung
Bzgl. der Art der Streitdarstellung habe ich 46 Lösungen berücksichtigt. In den anderen drei wurden keine Streits dargestellt (s.o.).
In 41 Lösungen wurden Streits jedenfalls teilweise autoritär dargestellt, in nur fünf Lösungen wurde ausschließlich argumentativ gearbeitet. In 27 Lösungen sind methodische Elemente enthalten (s.o.). Eine aus Argumenten abgeleitete Streitentscheidung erfolgt in 35 Fällen. In elf Lösungen wurde der Streit nicht argumentativ entschieden.
b) Berufung auf Autoritäten außerhalb von Streitständen
Für die Kategorie „Berufung auf Autoritäten außerhalb von Streitständen“ konnte ich alle 49 Klausuren berücksichtigen. In 37 Lösungen wurde sich auf Autoritäten berufen, in 17 davon stets ohne Argumente.
c) Gutachtenstil
Der Gutachtenstil im Vierschritt besteht aus einer Hypothese, die auf eine Rechtsfolge gerichtet ist (1.), dem Obersatz, der die dafür nötigen Voraussetzungen aufzählt (2.), der Subsumtion, in deren Rahmen geprüft wird, ob die Voraussetzungen im konkreten Fall vorliegen (3.) und dem abschließenden Ergebnis (4.).
Ich habe zum einen untersucht, ob Hypothesen und Obersätze zur Anspruchsgrundlage gebildet werden (aa). Zum anderen habe ich geprüft, ob es zu Doppelungen bei der Verwendung von Hypothesen und Obersätzen kommt und ob auch wenig aussagereiche Formulierungen verwendet werden (bb).
aa) Hypothesen und Obersätze zur Anspruchsgrundlage
Eine Hypothese und ein Obersatz zur Anspruchsgrundlage liegen in folgendem Fall vor: “A könnte einen Anspruch gegen B auf Herausgabe gemäß § 985 BGB haben. Voraussetzung ist, dass A Eigentümerin ist und B Besitzer ohne Recht zum Besitz.“
In zwei der 49 Lösungen werden stets Obersätze und Hypothesen gebildet, in zwei andern gibt es an keiner Stelle eine Hypothese zur Anspruchsgrundlage. In etwa der Hälfte der Klausuren werden teilweise Obersätze oder Hypothesen gebildet. Ebenfalls nur in etwa der Hälfte der Lösungen war bezüglich Obersatz- und Hypothesenbildung ein System erkennbar.
bb) Doppelte Obersätze und unnötige Hypothesen und Obersätze
Der Gutachtenstil im Vierschritt lässt sich theoretisch auf jeder Prüfungsebene und bei jedem Tatbestandsmerkmal anwenden. Allerdings würde es dabei zu zahlreichen Wiederholungen kommen und der Umfang von Lösungen würde (unnötig) ansteigen. Zu Wiederholungen kommt es schon dann, wenn zur Anspruchsgrundlage ein „großer“ Obersatz gebildet wird – Aufzählen aller Voraussetzungen – und dann zu den einzelnen Tatbestandsmerkmalen wiederum Hypothesen gebildet werden. Das gilt vor allem, wenn mit Überschriften gearbeitet wird. In diesem Fall wird eine Information dreimal angegeben ohne Bezug zum Fall und somit zweimal letztlich ohne Mehrwert.
Bsp.: “A könnte einen Anspruch gegen B auf Herausgabe gemäß § 985 BGB haben. Voraussetzung ist, dass A Eigentümerin ist und B Besitzer ohne Recht zum Besitz.
I. Eigentum
A muss Eigentümerin sein. … .
II. Besitz
B muss Besitzer sein. … .
III. Kein Recht zum Besitz
B darf kein Recht zum Besitz haben. … .“
19 der 49 Musterlösungen enthalten doppelte Obersätze, davon 17 zusätzlich noch eine Überschrift.
Ich habe auch gezählt, in wie vielen Lösungen unnötige Hypothesen und Obersätze vorkommen. „Unnötige“ Hypothesen oder Obersätze haben keinen Bezug zum Fall oder zu der zu prüfenden Norm und könnten letztlich ohne Inhaltsverlust komplett gestrichen werden („Fraglich ist, ob weitere Ansprüche bestehen.“ „Die Voraussetzungen müssen erfüllt sein.“). Als unnötige Hypothese oder unnötigen Obersatz habe ich auch bewertet, wenn keine Prüfung oder Subsumtion folgt, sondern nur eine Feststellung („X müsste eine Frist gesetzt haben. Das ist nicht der Fall.“). In einem solchen Fall könnte auch nur festgestellt werden („X hat keine Frist gesetzt.“).
16 der 49 Musterlösungen enthielten unnötige Hypothesen oder Obersätze. In 9 Lösungen sind sowohl doppelte Obersätze als auch unnötige Hypothesen und Obersätze enthalten.
d) Umfang
Um den Umfang der in Gutachtenform ausformulierten Lösungen zu bestimmen, habe ich die Zeichen inklusive Leerzeichen gezählt. Fußnoten und Hinweise habe ich nicht berücksichtigt. Den Umfang der „Musterlösungen“ habe ich mit den Werten von 15 studentischen Lösungen zu Examensübungsklausuren verglichen, die mit mindestens elf Punkten bewertet und an der Bucerius Law School oder der Universität Passung allen Studierenden als gelungene studentische Lösungen zur Verfügung gestellt wurden. Zwar ist die Zahl der studentischen Lösungen sehr gering und nicht repräsentativ, allerdings ist es doch beachtlich, dass die Musterlösungen im Durchschnitt fast doppelt so umfangreich waren, wie die studentischen Lösungen.
Ich habe die erzielten Werte außerdem in Beziehung gesetzt zur Verwendung doppelter Obersätze oder unnötiger Hypothesen und Obersätze. Hier ist besonders auffällig, dass bei den sehr umfangreichen Klausuren, über 30.000 Zeichen, in 17 vom 20 Fällen zumindest doppelte Obersätze oder unnötige Hypothesen und Obersätze enthalten waren.
4. Erkenntnis
Die vertiefte Auseinandersetzung mit der Gestaltung von Falllösungen bestätigt, in welch hohem Maße sich die Darstellungen unterscheiden.
Gerade der Blick auf die in Gutachtenform ausformulierten Lösungen zeigt, dass es anscheinend keine Einigkeit gibt, wie eine „Musterlösung“ aussehen soll. Das wirft die Frage auf, ob es Einigkeit gibt, wie ein ordnungsgemäß gestaltetes studentisches Gutachten aussehen soll. In welchem Umfang werden Hypothesen und Obersätze von Studierenden erwartet? Wie soll eine Streitdarstellung aussehen, die eine Prädikatsbewertung rechtfertigt? Die bloße Berufung auf Autoritäten wird dafür jedenfalls nicht ausreichen. Dann wird man sagen müssen, dass die vielen stark autoritär geprägten Darstellungen eine verpasste Chance sind, Studierenden aufzuzeigen, wie Fälle und Probleme argumentativ, methodisch und nah am Gesetz gelöst werden können.
Der im Vergleich zu einer realistischen Klausurlösung teilweise enorme Umfang kann Panik hervorrufen und im schlimmsten Fall von der Fallarbeit und dem Schreiben von Übungsklausuren abhalten.
Meines Erachtens ist nicht allen Klausurersteller*innen, die eine Lösung in Gutachtenform ausformulieren, klar, dass die Darstellung von Studierenden möglicherweise als positives Beispiel für ein Gutachten in der Klausursituation angesehen werden. Menschen Lernen aus Beobachtung (Bandura, Die Analyse von Modellierungsprozessen, in: ders. (Hrsg.), Lernen am Modell, 1976, S. 9, 53).
Ich bezweifle stark, dass Hinweise zu Beginn der Falllösung, die folgende Lösung sei keine Musterlösung und der dargestellte Umfang sei von den Bearbeitern nicht zu erwarten, ausreichend entgegensteuern können.
II. Materialsammlung
Abschließend möchte berichten, wie ich die Daten erhoben habe und auf welche Probleme ich dabei gestoßen bin.
Um ein umfassendes Bild zu erhalten, habe ich im Dezember 2018 alle Verantwortlichen der Examensvorbereitungskurse oder Klausurenkurse deutscher juristischer Fakultäten per E-Mail kontaktiert, die ich im Internet ausfindig machen konnte. Ich habe mein Anliegen beschrieben und gebeten, mir Lösungen von Klausuren zur Verfügung zu stellen, die im Rahmen eines Examensübungsklausurenkurses an Studierende herausgegeben wurden. Wenn ich persönliche Kontakte zu Mitarbeitenden von Universitäten hatte, habe ich diese zusätzlich angeschrieben oder jedenfalls dann, wenn ich keine Reaktion auf meine initiale Mail bekommen habe.
Insgesamt habe ich versucht mit 45 Universitäten oder Hochschulen in Kontakt zu treten. Wie zu erwarten, waren die Reaktionen sehr unterschiedlich. Einige wenige haben trotz dreimaligen Nachhakens im Abstand von jeweils ca. drei Monaten gar nicht geantwortet. Viele Verantwortliche der Klausurenkurse waren nur operativ tätig und haben meine Anfrage mit Verweis auf Instruktionen des jeweiligen JPA abgelehnt, welches die Klausuren nur zu Ausbildungszwecken an der jeweiligen Einrichtung zur Verfügung gestellt habe. Teilweise wurde ergänzt, es existierten nur die Originallösungen des JPA, die nicht herausgegeben werden dürften oder solche, die nur leicht abgewandelt seien. Andere Ablehnungen wurden mit dem Urheberrecht der Dozierenden oder gar nicht begründet. Einmal wurde mir auch rückgemeldet, es gäbe „überhaupt keine Lösung, um die Mitarbeit in der Klausurbesprechung zu fördern.“ Eine Fakultät bot mir an, die Klausuren vor Ort einzusehen, wovon ich aufgrund der Entfernung abgesehen habe.
Einige Adressat*innen meiner Mail haben von sich aus angeboten an den entscheidenden Stellen nachzufragen, mein Anliegen weiterzuleiten oder haben sich sogar die Mühe gemacht, mit dem JPA in Kontakt zu treten. Diese Bemühungen waren teilweise von Erfolg gekrönt, teilweise nicht. An einer Universität bestand „ein gewisses Unbehagen, unser komplettes Unterrichtsmaterial eines Jahrganges in fremde Hände zu geben.“ Einige Professor*innen konnten nach langem Mailwechsel mit mir und / oder den operativ Verantwortlichen überzeugt werden, Material zur Verfügung zu stellen („Bei einem Professor muß ich noch einmal nachbohren [er fragte mich, was Sie mit Ihrer Studie überhaupt erreichen möchten]“).
Vielfach wurde ich aber auf die Website und / oder den Klausurenplan der Institution verwiesen mit dem Hinweis, mich an die Professor*innen direkt zu wenden, was ich dann in der Regel auch gemacht habe, wenn ich nicht über andere Kontakte Klausurlösungen der jeweiligen Einrichtungen erhalten konnte.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die Materialsammlung aufwendig, schwierig und nicht vollumfänglich erfolgreich war. Da empirische Forschung in der Rechtsdidaktik einen echten Mehrwert bieten kann, ist zu hoffen, dass sich in Zukunft mehr Fakultäten und Lehrende freiwillig an solchen Untersuchungen beteiligen werden.